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Der Schuh des Patriarchen

Am Beispiel der weltbekannten Schuhfabrik Bally versucht der Oltener Filmemacher Bruno Moll, der in nächster Nähe und als Sohn einer Ballyanerin aufgewachsen ist, diese Entwicklung des Betriebs aus der Perspektive jener nachzuzeichnen, die ihn führten und führen.

Text: Walter Ruggle / 01. Nov. 1988

Bally ist ein Name, der seine Reise um die Welt gemacht hat, zumindest in den besseren Vierteln der grösseren Städte vertreten ist. Bally-Schönenwerd ist ein Schweizer Unternehmen, das auf eine 140-jährige Firmengeschichte zurückblickt, eine Firma, die sich, wie so viele andere in diesem Land, vom Familienbetrieb zum internationalen Konzern entwickelt hat. Am Beispiel der weltbekannten Schuhfabrik versucht der Oltener Filmemacher Bruno Moll, der in nächster Nähe und als Sohn einer Ballyanerin aufgewachsen ist, diese Entwicklung des Betriebs aus der Perspektive jener nachzuzeichnen, die ihn führten und führen.

Am Anfang steht die Legende. Für Moll ist es die Legende aus der Reformationszeit, die besagt, wie eine Marienstatue aus dem Fluss gefischt worden war und in der Kirche den besten Platz erhalten hatte, jenen Platz nämlich, an den sie sich des Nachts mehrmals selber hinverschoben hatte. Und es ist die Legende um die ersten Bally-Generationen, von denen der Gründervater auch seinen Platz als Statue erhalten hat, mitten im Dorf, gleich bei der Kirche. Gott und der lokale Patriarch sind nah beisammen. Der Schuh des Patriarchen, das ist die Geschichte einer Schuhfabrik genauso wie die Geschichte einer Familiendynastie, es ist das Bild vom Schuh in seiner Fertigung wie das übertragene Bild vom Schuh, den gewisse Herrschaften beim Tragen gebrauchen, um ihn anderen zu geben: Den Schuh nämlich, der tritt. Moll fügte mit seinem Schnittmeister Georg Janett die verschiedenen Linien und Ebenen zu einem Gebäude, in dem sich Gedanken bewegen können. Da ist einerseits die Familiengeschichte, die eine Geschichte der Väter ist, weil sie es waren, die das Sagen hatten. Da ist andererseits die alltägliche Arbeitsgeschichte, die ein Bild abgibt von Menschen, die nicht zum Reden angestellt sind, die Maschinen bedienen, an Bändern sitzen, sich ihr Brot damit verdienen, dass sie tun, was man sie heisst zu tun. Da ist auch das Handwerk, das heute teils von Maschinen geleistet wird. Und da ist die neue Unternehmensführung, ist der Manager, der angestellt ist wie die Arbeiter, gefeuert werden kann von Verwaltungsräten, die mit den Betrieben, deren Mandate sie halten, oft kaum noch eine Beziehung haben. Doch die Unterschiede zwischen Arbeiter und Manager sind offensichtlich: Das fängt bei dem an, was man je ihre Tätigkeit nennt, und hört bei dem auf, was sie dafür bezahlt kriegen. Es liegen Welten dazwischen. Obwohl in Molls Film nicht mit dem Zeigefinger auf diese Unterschiede hingewiesen wird: sie sind präsent, ergeben sich im Gesamtbild wie von selbst. Auch Macht sieht im Innern nicht spektakulär aus.

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In Der Schuh des Patriarchen ist die Firmengeschichte zuerst einmal auf nachgestellte, oft knapp mehr denn fotografische Momente reduziert. Ob Gründer Carl Franz Bally, ob Fabrikant Eduard Bally, ob Unternehmer Iwan Bally - alle drei werden sie vom gleichen Darsteller, dem Laien Beat Lüthy, gemimt. Was die Bilder des Filmes anbelangt - Edwin Horak leistete als Kameramann einmal mehr eine ausgesprochen sorgfältige Arbeit -, so fangen sie auf Herrscher- wie auf Arbeiterseite ein vergleichbares Bild ein: Es sind Aufnahmen von Haltungen, keine Spielszenen, keine Gespräche. Die Arbeiterschaft schweigt und arbeitet, die Patriarchen sind allein und geben die Devisen aus, befehlen, schaffen Gesetze, die ihnen dienlich sind, und kaufen sich, was ihnen helfen kann. Alte Tagebuchaufzeichnungen und Äusserungen des heutigen Managers ergeben ein Bild der Geisteshaltungen. Sehr aufschlussreich wird erkennbar, auf was für Momente das Geschäften heute reduziert ist, wie wenig Auseinandersetzungen der Strasse etwa zum Bewusstsein der Führungskr.fte unserer Gesellschaft beitragen. Nun werden «Märkte befriedigt », das Produkt ist sekundär geworden. Was für Schuhe gilt, wir wissen es, das lässt sich vielerorts auch aufs Filmgeschäft übertragen.

Durch die Montage, die auf der Bildwie auf der Tonebene vonstatten geht und durchaus bewusst nicht einfach synchron verläuft, schieben sich die Zeiten und die Haltungen ineinander, holt etwa die Vergangenheit eine Äusserung der Gegenwart ein und lässt sie offen im Raum stehen. In Farbaufnahmen schauen wir der Fertigung eines edlen Schuhwerks im Verlauf des Filmes zu, nachdem wir einer Sitzung der Geschäftsleitung beiwohnten, in der erstaunlich offen vor laufenden Kameras über das Abwerben von Fachkräften bei zwei grossen Konkurrenten gesprochen wird. Aus dem Tagebuch des Gründervaters die Notiz, dass der Umsatz 1856 100 000 Franken betrug, und während wir im Bild noch das Herstellen eines Schuhs betrachten können, erzählt der Manager seine Sicht der Bally-Geschichte, bei der er – nun im Bild – bei sich zuhause im Landhaus, grün und abseits der Stadt, der Mietskasernen, der bescheidenen Häuschen in Arbeitersiedlungen, vor dem Ofen sitzend, auf die Gegenwart zu sprechen kommt: «Es braucht heute wieder solche Unternehmer, ob das dann Angestellte sind oder Inhaber ist vielleicht gar nicht mehr ein so grosser Unterschied.» Er spricht übers Riskieren als Unternehmer, und wir sehen in sepiagetöntem Schwarzweiss eine Hand, die einen Brief hält, aus dem sogleich vorgelesen wird: «Geehrte Herren, seit Sie die Schuhfabrik gegründet haben, hat manch einer sein Verdienst verloren ... ». Im Bild bläst der Gründerbally seinen Stumpenrauch in den Schlot eines Fabrikmodells: Der Unternehmer spielt mit seinem Unternehmen – letztlich ist alles eine Frage der Proportionen.

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Molls Standpunkt ist der des empirischen Dokumentaristen, der Vertrauen schaffen kann und dieses auch nicht auszunützen braucht, um ein Grundlagenmaterial zusammenzutragen, aus dem sich sehr wohl Schlüsse ziehen lassen. Eigentlich braucht man dazu nur Augen, Ohren und Geist otfenzuhalten. Ein bisschen Anstrengung ist bei diesem schwierigen Themenkomplex zwar notwendig, doch der Aufwand lohnt sich, denn noch nie hat ein Schweizer Film sich so weit in die Gefilde jener vorgewagt, die die Tarife bestimmen in diesem Land, die ihre Untergebenen so weit gebracht haben, dass sie zufrieden sind und das Gefälle nicht mehr wahrzunehmen scheinen, ob all den kleinen Errungenschaften, die man ihnen im Lauf der Zeit zugestand. Die Übergänge, das zeigen zwei Schwenks mit Pausen auf einer Uhr in der Fabrik- beziehungs weise Bahnhofshalle und dem Wechsel von Schwarzweiss auf Farbe sehr schön, sie sind fliessend.

Weil die Suche nach Verständnis offenbar nie Führungssache war, weiss auch der heutige Chefmanager des Unternehmens «jetzt nicht mehr genau, was alles die Motive gewesen sind», als junge Menschen anfangs der achtziger Jahre in verschiedenen Städten Europas, auch vor seinem Geschäftssitz in Zürich, auf die Strasse gingen. «Schade», meint er aus der Distanz der wenigen Jahre und seines Landhauses, «dass es der älteren Generation nicht gelungen ist, die Jugend etwas in Schranken zu halten, so dass wirklich ein Dialog hätte entstehen können.» Für mich hat diese kurze Passage mit der ganzen Tragweite dessen, was sie zum Ausdruck bringt, den Film allein schon lohnend gemacht, weil sie neue Fragen provoziert, wie jene nach dem Stellenwert kultureller Aktivität in unserer Zeit. Moll übt auf allen Ebenen Zurückhaltung, und sie ist es, die letztendlich die starke Präsenz wieder neu schafft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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