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Reisen ins landesinnere 5

Reisen ins Landesinnere

Über ein Jahr hinweg hat Matthias von Gunten an der Zeit seiner sechs Personen teilgenommen, hat seine Personen belauscht und beobachtet, ist ihnen nahe geblieben und nahe gekommen.

Text: Walter Ruggle / 01. Nov. 1988

Der Filmemacher Matthias von Gunten hat ende der siebziger Jahre an der Münchner Filmhochschule sein Handwerk studiert. Nach seinem längeren Auslandaufenthalt ist er in die Schweiz zurückgekehrt und hat hier auf verschiedenen Produktionen, darunter bei Fredi M. Murers Höhenfeuers und Markus lmhoofs Die Reise, als Assistent gearbeitet. Die Rückkehr in die Heimat, die Reise von aussen nach innen, war ihm Anlass, das Land seiner Herkunft zu erforschen. Sein Film mit dem wunderschönen Titel Reisen ins Landesinnere ist aus diesem Wunsch heraus entstanden, seine Reise zurück in einer filmischen Reise hinein gemündet, in eine stille Betrachtung von dem was ist, von dem, was einzelne Leute bewegt, und von dem, was sie stillhält.

Von Gunten hat sich auf sechs Personen oder einen Millionstel Schweiz beschränkt. Die sechs sind nicht im Hinblick auf irgendwelche Repräsentativität hin ausgewählt, dafür mit solchem Geschick, dass sie gemeinsam für vieles stehen, was Dasein hierzulande prägt. Die ausgetüftelte Montage hat aus den sechs Personenfäden ein Netz geschaffen, das das Land und sein Inneres fein umgarnt. Die Reise ins Innere vollzieht der Film selber in einer konstanten Suche nach Bewegung in der Ruhe. In betonter Nähe betrachten von Gunten und sein Kameramann Pio Corradi die Personen, die in Arbeiten vertieft sind: Den Grenzgänger Giovanni Simonetto, der in Melide als Italiener mit Hingabe am Miniaturerscheinungsbild der Schweiz herumbastelt, an einem Bild, das Schweizer Fremden später grossspurig präsentieren; den aus der Stadt geflüchteten Couturier Hans Stierli, der im Onsernonetal an einem Reservoir für sein Rückzugsparadies mauert, um etwas anzufangen mit der vielen Zeit, die sich ihm in der Abgeschiedenheit aufdrängt; die Nachrichtenkoordinatorin Catherine Schenker im Zürcher Fernsehstudio, die täglich an der weltweiten Bilderbörse jene Bilder auswählt, die ein bisschen weite Welt in die Schweizer Stuben bringen sollen, Bilder von Tragödien vor allem, das steigert das eigene Wohlbefinden, die Selbstzufriedenheit. Die Weite möchte auch der Hobby-Flugzeugbeobachter Hanspeter Sigrist spüren, für sich fassbar machen, während das alte Fräulein Berta Massmünster in ihren vier Wänden zum rechten sieht und der Kulturgüterschützer Franz Jaeck staatlich definiertes Kulturgut auf Mikrofilme bannt, damit es wenigstens so eine nächste nukleare Katastrophe überstehen könnte.

Während draussen die Inszenierung des Untergangs vorbereitet wird, wird drinnen das Schöne in Blechbüchsen abgefüllt aufgebahrt. Die gegenwärtige Schweiz scheint dazwischen zu liegen – zwischen der Zukunft im Bunker und dem Ausblick auf die Welt. Alles ist nach Innen gerichtet, das Böse liegt anderswo. Die Welt kommt von oben, landet auf der Flughafenpiste oder flimmert am Bildschirm zuhause. Sie erscheint klein, stinkt und macht Lärm. Vor allem, wenn sie aus dem Osten einfliegt. Sie belastet das Leben, oder sie entlastet es. Je nachdem, wie man sie wahrnimmt.

Sechs Personen sind damit beschäftigt, ihre Zeit zwischen Bunker und Welt zu verbringen. Alle schaffen fleissig daran, etwas im Kleinen fassbar zu machen, sei es in Bildern der inneren Schönheit oder des äusseren Grauens, in Gestalt von eigenen, in sich stimmigen Miniaturwelten. Der Hang zum Kleinen, zum noch oder wieder Fassbaren gibt Halt in der Flüchtigkeit. Gelebt wird auf Zeit.

Über ein Jahr hinweg hat Matthias von Gunten an der Zeit seiner sechs Personen teilgenommen, hat seine Personen belauscht und beobachtet, ist ihnen nahe geblieben und nahe gekommen. Es ist Material zusammengekommen, aus dem eine Spannung, ein Erzählfluss und eine Reise erst noch geschaffen werden mussten, denn im Alltag und jedes für sich genommen erscheint das Leben ja ausgesprochen unspektakulär. Hier trinkt einer Milch, dort drückt eine auf Schaltknöpfe, der dritte hebt eine Messlatte und die andere schält einen Apfel.

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Die Montage schuf aus der Dokumentation des Schlichten allmählich so etwas wie ein Stück spannende Fiktion: Durch das künstliche Ineinander wird gebildet, geformt, ersonnen. Die Gleichzeitigkeit des Anderen wird unaufdringlich erkennbar. Da fügen sich grössere zusammenhänge mit Kleinstausschnitten zu einem Zeitbild, zu einer Art Punktezeichnung, bei der die Verbindungslinien zum Gesamten vom Betrachter, von der Betrachterin gezogen werden können, wo zwischen den Punkten Fragen um Lebensraum, Lebensverhalten, Lebensinhalt aufscheinen. Hier das Fernsehstudio mit der Nachrichtenkoordinatorin, die Bilder über einen Atomversuch in einer Wüste von Nevada via Satellit aus New York zuschaltet. Dort der ausgestiegene sechzigjährige Zürcher Couturier, der in kurzen Hosen und nacktem Oberkörper mit einer Hacke den Boden bearbeitet. Atomare Sprengkraft im Vagen eines nicht fassbaren und doch permanent medial präsenten Erdenrunds, und Verletzlichkeit des Einzelkörpers in allernächster Nähe. Der künstlich geschaffene Zusammenhang durch die hervorragende Montagearbeit löst den Gedankengang daran aus, wie rasch er ein wirklicher werden kann.

Hier das alte Fräulein aus Münchenstein, das liebevoll sein Bett macht, als würde es dieses in den nächsten paar Jahren nicht mehr benutzen. Dort der staatliche Kulturgüterschützer, der in einer Kirche auf Mikrofilm bannt, was anerkannte Normen als Kunstwerk definieren und damit als schützenswert. Alt muss es sein. Die Einlagerung des Abbildes in einem atomsicheren Bunker, wo die Bevölkerung sich dereinst an Bildern dessen, was war und sein könnte, über das hinwegtrösten kann, was eventuell noch ist. Wenn kein Leben bleibt, so zumindest die Bilder. Von Guntens Film zeigt sie, die schnellen Bilder der zerstörerischen Zeitgeschichte, und er setzt ihnen eigene Bilder entgegen, in denen er die Gemächlichkeit der auf Bewahrung Bedachten aufnimmt. Die Widersprüche ergeben sich von selbst.

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Etwas vom faszinierendsten an von Guntens Film sind all jene ganz nebenbei eingefangenen Momente, die Kerne, die Inneres offenlegen, die dem Titel in seiner Mehrdeutigkeit ihre Gültigkeit geben. Gleichzeitigkeit schaffen heisst in Beziehung setzen, und das ermöglicht einen Einblick in die Tiefe, ins Landesinnere eben, das letztlich ein geistiger Ort ist. Während im Filmablauf, nimmt man ihn als Parallelmontage, an der Landebahn eine Tupolew landet und einer feststellt, Jetzt chunnt de Russ!, putzt und spült Fräulein Massmünster in Münchenstein ihr leeres Milchtetrapack gründlich aus, legt das Messer zu den übrigen Messern in die Schublade zurück und zwar hintendran, damit alle drankommen. Sie ist sich ihrer wenigen Dinge sicher, erscheint widerstandsfähig, als der totale Anachronismus.

Auffallend oft stockt der Kulturgüterschützer, hält inne, bei seinen Erläuterungen, als ob er für einen Augenblick wieder genau erkannt hätte, wie absurd das ganze Theater geworden ist, in dem er, in dem wir alle drinstecken. Einmal demonstriert er in seinem Büro Funktion des Kulturgut-Signetes, das an schützenswertem Gut angebracht würde: Ein einmarschierender Aggressor würde sehen, dass das Objekt unter Kulturgüterschutz steht. Er muss es respektieren, das ist ihm bekannt. Für mich ist dies eine von den vielen ins Zentrum gerückten Randerscheinungen in von Guntens Film, eine der Szenen, die ebenso komisch wie tragisch wirken, bei denen man lacht und gleichzeitig wütend wird.

Die Kamera und das Tonaufnahmegerät sind dabei, sprachlos. Ist es zu fassen, womit sich Leute in diesem Land beschäftigen? Dreimal im Verlauf des Filmes ein irres, langes Travelling entlang der Menschen an der Flugpiste: Weekend 87. Sprachlos stehen sie da, sprachlos schaut man ihnen zu. Menschen als Standbilder ihrer selbst. Bewegt ist die Kamera, bewegt sind Corradis Bilder, die von Guntens Vision vom Zusammenwirken derart verschiedener Details ermöglichen, bewegt mag der Geist beim Betrachten werden, während drinnen irgendwie alles in sich selber stillzustehen scheint, drinnen, im Landesinnern

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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