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Schlaflose naechte 1

Schlaflose Nächte

Satire ist nicht Gislers Stil. Nahe, wie ihm seine durchaus liebenswürdigen Figuren stehen, begegnet er ihnen nur mit leiser Ironie, die ihrem gebrochenen Charme und ihrer freundlichen Orientierungslosigkeit entspricht.

Text: Andreas Furler / 01. Dez. 1988

«Déjà vu», sollen viele Kritiker in Locarno gesagt haben, nachdem sie Marcel Gislers Schlaflose Nächte im Wettbewerbsprogramm gesehen hatten. Anders fiel das Urteil der Jury aus, die den Film mit einem bronzenen Leoparden (für seine aussergewöhnliche Erzähltechnik) auszeichnete – zu Recht, denn Gislers zweiter Kinospielfilm ist mehr als eine reine Neuauflage des vorangegangenen. Die Parallelen zum Erstling Tagediebe (1985) sind freilich nicht zu übersehen, so dass man bisweilen fast meint, die jetzigen Figuren schon von früher zu kennen.

Angesiedelt sind sie erneut in der avantgardistischen jungen Künstlerund Pseudokünstlerwelt Berlins. Gislers Co-Autor Rudolf Nadler, der damals den gescheiterten Studenten und Möchtegernschriftsteller Max gab, verkörpert jetzt den Regieassistenten Ludwig, der seines Metiers allerdings auch schon wieder müde ist und sich eine kreative Pause zwecks «reinen Denkens» verschreibt. Diese verbringt er jedoch – alkoholisch fast dauernd neutralisiert – vor dem Fernseher, an Parties und in Bars. Hier trifft er denn, um den Verknüpfungsgedanken auf illegitime Weise noch einen Moment weiterzuspinnen, auch wieder jene französische Punkschönheit (Dina Leipzig), die ihre Zeit als Tagediebin noch halbwegs unbekümmert mit der Pflege ihrer exzentrischen Frisur und nächtlichen Streifzügen totschlug. In der Rolle Tonis, die sie jetzt spielt, wirkt sie zunächst damenhafter, reservierter, letztlich aber gebrochener, orientierungsloser noch. Als sie Ludwig nach einer der schlaflosen Nächte in ihre gediegene Wohnung mitnimmt, bricht unter der maskenhaften Aufmachung plötzlich eine neurotische Verzweiflung hervor.

Déjà vu? Im Vergleich zu früher haben sich Gislers Figuren äusserlich etabliert. Ludwig kleidet sich schicker als Max, die Nachtclubs sind gepflegter geworden, und Alkohol beliebiger Sorte ist finanziell kein Problem mehr. Während Max permanent auf Pump lebte, ersteht sich Ludwig von einem dubiosen Freund gelegenheitshalber eine Lederjacke oder auch mal einen Kokaintrip. Die materiellen und psychischen Drogen sind kompensatorisch aber auch wichtiger geworden, weil sich die geistige und emotionale Unbehaustheit der Figuren noch verschärft hat. Die Lektüre, die Diskussionen und künstlerischen Versuche, welche die Tagediebe immerhin noch ansatzweise betrieben, sind reiner Ratlosigkeit gewichen. Zu einem eigenen Projekt kann sich Ludwig nicht mehr aufraffen, und selbst seine wiederholt anklingenden Reisepläne werden nie verwirklicht.«Was mir fehlt, ist eine Notwendigkeit», lautet sein Befund und Schlüsselsatz gegen Ende des Films. Dass sein Sinndefizit in der Befreiung von persönlichen und beruflichen Beziehungen wurzeln könnte, die in einer Welt ohne transzendenten wenigstens noch einen immanenten Sinn stiften, wird ihm allem Anschein nach nicht oder nur ganz langsam bewusst. Unverbindlicher sind auch die Beziehungen geworden. Hatten sich die Protagonisten des vorangegangenen Films als «ménaqe à trois» in ihrem Wohnprovisorium im Grunde auf Dauer eingerichtet, hatten sie wiederholte Auseinandersetzungen eher zusammengeschweisst als auseinandergetrieben, so sind die Schlaflose Nächte eher als Schnitzler'scher Reigen angelegt: Spiegelbildlich zu Ludwig lässt sich seine Freundin Anna mit dem arbeitslosen Zuzüger Stefan ein, dessen Freund Nick wiederum mit Annas Wohnpartnerin Silvia schläft, bis er an einer Party einen neuen Freund trifft. In ihm, der ganz in den Tag hineinlebt, findet auch Lauritz, der dritte im damaligen Bund der Tagediebe, seinen Gegenpart. Hier wie dort scheint die Homosexualität übrigens kein zwingendes Nebenthema, sondern eher ein Demonstrationsobjekt zu sein, mit dem Gisler Zeitgemässheit markiert.

Der Flirt, ob nun gleich- oder gemischtgeschlechtlich, ersetzt somit dauernde Beziehungen, die Flucht die Austragung von Konflikten. Ludwig, der sich gleichsam den ganzen Film lang irgendwo davonstiehlt, ist vorab ein Meister des «Degagements» – nicht zuletzt des politischen. Ein letzter Vergleich mit Gislers Erstling ist diesbezüglich aufschlussreich. Zog sich die Diskussion um politische Aktivität damals noch durch den ganzen Film, so wird das Thema in Schlaflose Nächte nurmehr in einer sketchartigen kurzen Szene gestreift und karikierend erledigt. Ein intellektueller Schaumschläger führt Ludwig und anderen Bekannten seine dilettantischen Super-8-Filme vor und ergeht sich in politisch-künstlerischem Pseudotiefsinn. Die antipolitische Schlusswendung aus Tagediebe – der «Politfreak» setzte das Protagonistentrio damals erbarmungslos vor die Tür und wurde damit als Spiesser entlarvt – wiederholt sich in variierter Version. Mag denn Gisler auch seit acht Jahren in Berlin wohnen, in der Skepsis und schliesslich der satirischen Attacke gegen alles, was nach Politik riecht, zeigt er sich noch immer als echter Schweizer.

Satire ist im übrigen nicht Gislers Stil. Nahe, wie ihm seine durchaus liebenswürdigen Figuren stehen, begegnet er ihnen nur mit leiser Ironie, die ihrem gebrochenen Charme und ihrer freundlichen Orientierungslosigkeit entspricht. Sinnlos wäre es ja auch, Personen, die sich ihrer Lage weitgehend bewusst sind, satirisch blosszustellen. Umso besser kommen denn atmosphärische Zwischentöne und das feine Spiel der schauspielerischen Nuancen zur Geltung. Mit einem angedeuteten Lächeln oder einem überraschten, betroffenen Blick machen Rudolf Nadler oder auch Anne Knaak in den besten Momenten innere Vorgänge ohne jede Aufdringlichkeit kenntlich.

Ganz selbstverständlich bringen auch Patrick Lindenmaiers Pastellbilder, die präzisen, oft unbeweglichen Einstellungen und sanften Fahrten, die vorherrschende Stimmung sanfter Resignation zum Ausdruck, an der auch die dosiert eingesetzte leitmotivische Kammermusik ihren Anteil hat. Gekonnt handhabt Gisler zudem die einzelnen Erzählstränge, die mit dem halben Dutzend Haupt- und Nebenfiguren verknüpft sind. Wo immer die einzelnen Episoden zu stagnieren drohen, schliesst sich nahtlos die nächste an, bis alle im letzten Drittel des Films, in einer letzten schlaflosen Nacht, wieder zusammenkommen. Meistert Gisler diesen dramatischen Knoten in der Inszenierung auch nicht ganz perfekt – sichtbar wird dies an kleinen Handlungssprüngen–, so gelingen ihm hier doch aussagekräftige und beziehungsreiche Momente. Noch einmal passiert nun die ganze Gesellschaft Revue, von der sich mit einem eingangs fallenden Schopenhauerzitat sagen lässt, «dass sich jeder für ganz frei hält... Allein, durch seine Erfahrung findet er zu seinem Erstaunen, dass er aller Vorsätze und Erfahrungen ungeachtet sein Tun nicht ändert und von Anfang seines Lebens an denselben, von ihm selbst missbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis zum Ende spielen muss.»

Ob die bittere Resignation Schopenhauers, die sich mit literarischer Brillanz in den metaphysisch begründeten Befund schickt, auch am Ende der Zustandsbeschreibung Gislers steht, bleibt offen, denn der Schluss des Films lässt sich verschieden auslegen: Anna geht nach der langen Nacht in Ludwigs Wohnung und hinterlässt ein Liebeszeichen. Ludwig trifft bei Tagesanbruch auf einen alten Freund, der bei Dreharbeiten in personellen Verlegenheiten steckt. Spontan springt Ludwig als Tonmann ein und übernimmt zum ersten Mal wieder eine kleine Verpflichtung. Bewahrheitet sich also Schopenhauer und kehren alle in ihre ausgetretenen Bahnen zurück? Oder handelt es sich um einen Neuanfang, erneuertes Engagement? Arbeit, so bemerkt ein Freund Ludwigs einmal, ist notwendig, weil sie die ökonomische Not abwendet. Bestenfalls wendet sie auch die existentielle Not ab, sich keiner Notwendigkeit unterworfen zu fühlen, schlimmstenfalls mindestens die Langeweile.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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