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Hinter verschlossenen tueren 2

Hinter verschlossenen Türen

Wo die Berliner U‑Bahn zur Hochbahn wird, ermöglicht sie dem interessierten U‑Bahnfahrer ungewohnte Einsichten. Wer will, kann anderen direkt ins Wohn- oder Schlafzimmer schauen. In der Eingangssequenz von Hinter verschlossenen Türen fahren wir lange in dieser Hochbahn und lassen die verschiedenen Fassaden an uns vorüberziehen.

Text: Sabina Brändli / 01. Okt. 1991

Wo die Berliner U-Bahn zur Hochbahn wird, ermöglicht sie dem interessierten U-Bahnfahrer ungewohnte Einsichten. Wer will, kann anderen direkt ins Wohn- oder Schlafzimmer schauen. Die Häuser hinter der Hochbahn öffnen sich der Imagination des U-Bahnfahrers wie ein vorne offenes Puppenhaus. In der Eingangssequenz von Hinter verschlossenen Türen fahren wir lange in dieser Hochbahn und lassen die verschiedenen Fassaden an uns vorüberziehen. Hinter diesen Fassaden spielen sich alle möglichen Geschichten ab. Einige davon hat Anka Schmid für uns bebildert.

Der Hauptdarsteller von Hinter verschlossenen Türen ist ein Haus. Ein älteres Mehrfamilienhaus, gleich hinter der Hochbahn, an einer breiten, stark befahrenen Strasse. Kein typisch berlinerisches Hinterhaus mit lauter schrägen Typen, sondern ein normal-durchschnittliches Vorderhaus mit siebzehn verschiedenen Mietern. Ein Hauswartsehepaar mittleren Alters, eine alleinerziehende Mutter mit zwei Teenies, Kleinfamilien, eine Männerwohngemeinschaft, eine alleinstehende Frau, ein alter Mann. In diesem Haus spielt sich der normalverrückte Alltag ab: Streit und Zetereien um ans Treppengeländer geklebte Kaugummis, um hausinterne Anschlagbretter und die diesbezüglichen Kompetenzen oder auch um die «Zimmerlautstärke» beim Musikhören. Hinter den verschlossenen Türen spielen sich die alltäglichen, kleinen, grossstädtischen «Dramen« ab. Einzelkinder, die sich am Sonntagmargen zu Tode langweilen und die Eltern aus dem Schlaf zu piesacken versuchen. WGFrust bei ungeklärten Abwaschverhältnissen nach durchzechten Nächten. Fernwehträume älterer Frauen, die (Karate-)Videosucht heutiger Väter oder auch die Vereinsamung jener, die mit der hektischen Betriebsamkeit der Grossstadt nicht mithalten können: die Alten und Behinderten.

Diesen alltäglichen Mief auch noch im Kino ansehen und anhören zu müssen, könnte langweilig sein, wäre da nicht die Verdichtung und Stilisierung des Alltäglichen und eine gute Portion Humor und Ironie. Wenn beispielsweise die alleinerziehende Mutter gleichzeitig wie ihre Bravo-lesenden Töchter auf der Männersuche ist, so enthält die Situation eine ganz eigene Komik. Auch, wenn sich ein Schwarzer und ein Schwuler gegenseitig an den Rand der Gesellschaft drücken wollen: «Weisst du, ich bin hundertmal lieber schwarz als schwul.» Die Dialoge sind oft so zugespitzt und auf den Punkt gebracht, dass der ganze Irrwitz der alltäglichen Situation hervortritt.

Hinter verschlossenen Türen nimmt den Rhythmus des Hauses auf. Es wird Morgen, Mittag, Abend und Nacht. In der Nacht löst der Ton das Bild ganz ab, und wir hören nur, wie das Haus weiteratmet. Stadtgeräusche: das sphärisch klingende Quietschen der Li-Bahngleise, das Rauschen der vorbeifahrenden Autos, Klospülungen oder Hundegebell. Kurz vor dem Einschlafen sehen wir unsere Nachbarn nicht mehr, aber wir hören sie unter Umständen. Am nächsten Tag sind es dann wieder andere Klänge: Presslufthämmer, Sirenen, Kinder die «Auto» spielen, kratzende Töne von Mädchen, die Geige üben, das unerbittliche Tic-Tac eines Metronoms.

Das alte Mietshaus ist nicht auf das moderne Stadtleben eingestellt. Ohne Lift und Rampe ist es ein Gefängnis für Behinderte. Geduldig wird von oben der langwierige Weg einer jungen Frau im Rollstuhl beobachtet, den sie jeden Tag fährt, bis der morgendliche Kaffee fertig auf dem Tablett steht. Vom Schüttstein zum Herd, vom Herd zum Tisch, vom Tisch zum Schrank – und zurück. Ohne viel Worte wird ihr Schicksal in eindrücklichen Bildern gezeigt. Mit derselben Hingabe und Konzentration mit der die junge Frau vor ihrem Unfall Flamenco geübt hat, bringt sie nun ihre Kastagnetten mit geläufigen Bewegungen zum Tanzen. Besonders schön ist auch das Porträt des Fotografen Kempinski: ein alter Mann, der immer noch genau hinschaut, auch wenn er fast nichts mehr sieht. Die Ehren, die ihm zum achtzigsten Geburtstag zuteil werden, kommen zu spät. Wem will er auch noch davon erzählen? Seine Freunde sind alle bereits gestorben und von den Nachbarn im Haus interessiert sich auch kaum einer für ihn. Die moderne Bilderflut irritiert ihn. Ihr stellt er hartnäkkig ein anderes Sehen gegenüber, das er schon früher, als professioneller Bildermacher, gepflegt hat: langes Beobachten, genau hinschauen und sich erst dann ein Bild machen. Neben traurigen Geschichten gibt es aber auch hoffnungsvolle: Freche Mädchen, die sich nicht Kleinkriegen lassen («Na, ich will dir mal was sagen, Fräuleinchen, ich bin 'ne Sie und du bist 'ne du. Verstanden?») und die sich von keinem Hauswart oder sonstigem Miesepeter die Lust am Kaugummikleben und ähnlich subversiven Grosstaten nehmen lassen. Starke Mädchen im Teenageralter, die instinktiv dem Richtigen die Türe weisen und dabei gar nicht merken, wie sehr sie durch die nächsten Nachbarn gefährdet sind.

Hinter verschlossenen tueren

Es sind Bruchstücke, Fragmente von Geschichten, die wir erfahren. Manchmal braucht es nur wenige Worte, und wir können uns die ganze Geschichte zusammenreimen: Eine Frau macht sich sorgfältig für ein Rendez-vous zurecht. Kurze Zeit später sehen wir sie wieder vor dem Spiegel: «Kennwort: Toleranz» murmelt sie entnervt vor sich hin, während sie sich abschminkt. Den Typen mit der Rose im Knopfloch und der Zeitung unter dem Arm und die ganze desolate Situation können wir uns vorstellen, ohne sie im Film gesehen zu haben.

Manchmal begleiten wir einzelne Bewohner des Hauses noch ein Stück des Weges: auf dem Motorrad den Halbwüchsigen (da ist das Bild auch entsprechend bewegt, besonders in der Kurve), zu Fuss die Mutter mit dem Kind, per Autostop den ständig blanken Schwarzen. In der nächtlichen, anonymen U-Bahn begleiten wir Micha, die Jus-Studentin, und wir wissen nicht, ob sie jetzt von einem harmlosen Nachbarn beobachtet und verfolgt wird oder ob sie sich das nur einbildet. Blicke, Schritte hinter ihr; es bleibt in der Schwebe – auch in der Wirklichkeit ist es schliesslich nicht immer klar.

Zum Schluss entfernen wir uns von den Menschen und ihren Geschichten, ein Tag vergeht, ohne dass wir uns hinter die verschlossenen Türen schleichen. Es wird Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Abwechslungsweise gehen die Lichter in den verschiedenen Wohnungen und Zimmern an und aus. Der alte Kempinski ist gestorben. Am nächsten Tag fragt das kleine freche Mädchen: «Ist es wahr, dass Kempinski tot ist?» Und «Was ist eigentlich, wenn man tot ist?» «Frag Anita, die weiss es bessert » Die Frage bleibt unbeantwortet, denn der Vater verweist die Tochter an die Mutter. Schliesslich fahren wir wieder, wie in der Eingangssequenz an verschiedenen Häuserfronten vorbei. Immer wieder friert das Bild bei einem Fenster ein, denn hinter jedem dieser Fenster spielen sich ebensolche Geschichten ab. Der Ton lässt die Geräusche des Films Revue passieren (wie andere Filme die prägenden Bilder): Wecker, Kastagnetten, das unheimliche Klicken eines Kamerablitzgewitters, quietschende Gleise. Die passenden Geschichten dazu entwickelt der Zuschauer spätestens bei der nächsten schlaflosen Nacht selber.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1991 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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