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Schatten der liebe 4

Schatten der Liebe

Christof Vorsters erster Langspielfilm überrascht. Nicht einfach so, sondern sozusagen grundsätzlich.

Text: Michael Sennhauser / 01. Okt. 1992

Christof Vorsters erster Langspielfilm überrascht. Nicht einfach so, sondern sozusagen grundsätzlich. Er fängt ganz ruhig an, fast dokumentarisch: Tom, ein Schweizer, der sein Glück in Chicago gemacht hat, kommt für ein paar Tage nach Zürich, weil er nach dem überraschenden Tod seines Bruders dessen Wohnung auflösen soll. Mit kühler Sachlichkeit übergibt ihm die Bezirksärztin die auf der Leiche gefundenen Effekten und klärt ihn darüber auf, dass Philipp sich in einem Steinbruch erschossen habe. Ganz unaufdringlich erfahren wir dabei auch, dass sich die Brüder über zehn Jahre nicht mehr gesehen haben. Das Foto im Pass des Verstorbenen ist denn auch für Tom wie für uns der erste Eindruck von dem Mann, der Philipp gewesen sein mag.

Die Idee ist faszinierend. Der Mann aus Amerika ist ausgerechnet in Zürich auf der Spur seines Bruders, den er, das wird schnell klar, nur zu kennen glaubte. In der chaotischen, völlig versifften Wohnung des Toten findet er zunächst Christin, dessen selbstbewusste Freundin, und Automatenbilder von Philipp mit Christin. Später werden andere Fotos weitere Facetten von Philipp eröffnen.

Die Nachbarin verblüfft Tom mit der traurigen Feststellung, sein Bruder sei immer so lustig gewesen. «lustig? Mein Bruder?» Herbert, ein zerknautschter Beamtentyp, glaubt zuerst an einen blöden Witz, als Tom ihm mitteilt, dass Philipp tot sei. Durch einen Unfall, im Suff, ja. Aber Selbstmord? Tom, der der Meinung war, sein Bruder hätte sein Leben nie in den Griff bekommen, staunt erneut. Bei der Urnenbestattung erscheint eine weitere traurige Gestalt, Steve «Tatoo» Rattlesnake, ein lederbehoster, kettenbehangener Tätowierer, der mit seinen schnoddrigen Sprüchen Tom den letzten Nerv raubt.

Das Bild, welches Tom von seinem Bruder hatte, verändert sich immer mehr. Zu aller Not verliebt er sich auch noch in die eigenartige Christin, die ihn abwechselnd anrennen und ankommen lässt.

Endlich sitzt Tom in der halbleergeräumten Wohnung, hat einen offensichtlich gestohlenen Wagen ausgehändigt bekommen, einen Packen Geld und eine Pistole. Und niemand will ihn aufklären, wo das alles herkomme oder hinführen soll. Unter Philipps Matratze findet er Fotos seines Bruders mit einem distinguierten Herrn beim Liebesspiel, und dann mehren sich sogar die Anzeichen, dass Philipp gar nicht wirklich tot ist. Dafür verschwindet Christin spurlos.

Wer immer den Film ohne Vorinformationen sieht, wird einmal zu dem Punkt gelangen, an dem er oder sie sich umbesinnen muss. Was als atmosphärisch dichte und spannende Beziehungsstudie angefangen hat, entwickelt sich zum nicht minder stimmungsvollen Krimi. Dass dieser Übergang nicht ganz reibungslos vor sich geht, mag an der (noch) mangelnden Erfahrung des vielversprechenden Regisseurs liegen oder auch an seiner betonten Lust am Risiko. Dass Christof Vorster sein Handwerk in zehn Jahren als Regieassistent wirklich gelernt hat, zeigt sich in einigen wirklich packenden Sequenzen, in seiner Fähigkeit, Zürich zugleich filmgemäss exotisch und alltäglich erscheinen zu lassen.

Schatten der liebe 2

So bietet ein Ausflug in den Orkus einer phantastischen Homo-Szene Bilder, die man in einem Schweizer Spielfilm nicht erwartet hätte. Der «Club der Nubier» erinnert eher an amerikanische Krimis als an europäisches Szene-Kino. Auch wenn diese ästhetisierten Bilder nicht unumstritten bleiben dürften, haben sie doch eine eindeutige Funktion, ebenso wie die nächtlichen Aufnahmen im Industriequartier: Die Krimistimmung führt auf verblüffende Weise das (beschämend lächerliche) Paradox vor Augen, dass sich der «Mann aus Amerika» in dieser Zürcher Halbwelt nicht richtig zu bewegen weiss. So ist es denn nur noch die letzte Ironie, wenn der wiederauferstandene Philipp seinen Bruder auffordert, nach Amerika zurückzugehen: «Hier ist es zu gefährlich für dich!»

Die Anlage von Vorsters Figuren lebt nicht zuletzt davon, dass selbst Tom als eigentlicher Sympathieträger einem manchmal fremd wird, wenn er zum Beispiel mit männlich-dämlicher Insistenz Christin anmacht, obwohl auch ihm längst klar sein müsste, dass an diesem Abend nichts mehr laufen wird.

Werner Stocker verleiht seinem Tom eine verbohrte Unschuld, eine charmante Naivität, welche unseren Vorstellungen von einem amerikanisierten Schweizer bereitwillig in die Arme fällt. Leslie Maiton hat es nicht ganz so leicht. Ihre Christin lebt davon, dass sie sich als nicht ganz zuverlässige Projektionsfläche für Tom zur Verfügung stellt. Am stärksten ist sie in den Szenen des ersten Teils, wo unsere Neugier und jene Toms auf diese Frau sich noch gemeinsam bewegen.

In dem Moment, da Christin aber mit Tom zu spielen beginnt, verschwindet Leslie Maitons spannendes Gesicht hinter einer Standardmaske und Insignien wie Nagellack oder Minirock übernehmen ihren Part. Das hat zwar seine Logik, kommt aber doch etwas abrupt, sozusagen bevor man sich von der Frau verabschieden konnte. Aber warum soll dem Publikum vergönnt sein, was Tom vorenthalten bleibt?

Dass keine der Figuren das bleibt, was sie ursprünglich darstellte, dass die Vorstellungen, die sich Tom von dieser vermeintlich bekannten Welt gemacht hat, revisionsbedürftig werden, vermittelt der Film allerdings nicht immer gleich gut. Die Übergänge und die Überraschungsmomente sind manchmal zu deutlich auf den Effekt hin angelegt.

Dafür finden sich auch ein paar wirklich schöne Klein-Szenen. Dass Tom auf dem Treppenabsatz der gefüllte Abfallsack platzt, und ihm der ganze Saustall wieder neu zu Füssen liegt, fasst in einer einzigen Einstellung den Kern der Geschichte.

Die Kamera Rainer Klausmanns holt übrigens recht viel aus den bescheidenen Sets heraus. Die Enge der Wohnungen, die Verlorenheit von Steves Tätowierstudio kontrastieren mit der Katerstimmung auf dem Friedhof und den krimimässig spärlich ausgeleuchteten Nachtaufnahmen im Industriequartier. Klausmann gelingen die Übergänge zwischen gelackten Kinobildern (der aggressive Sportwagen lauert in der Dunkelheit wie 1983 John Carpenters Chrsistine, und Christins roter Nagellack tropft mit lasziver Viskosität durch eine Grossaufnahme) und grauer Zürcher Alltagsstimmung viel besser als der übrigen Inszenierung.

Ein Film, der sein Publikum davon überzeugen könnte, dass nichts wirklich so sei, wie es scheint, würde einiges leisten in einer Zeit, die es noch immer nicht lassen kann, Bildern mehr zu trauen als Worten. Schatten der Liebe ist nicht dieser Film, erhebt auch nicht offen den Anspruch. Aber mit seinem überraschenden Konzept hat Christof Vorster einen in seinen Publikumsansprüchen neuartigen Schweizer Spielfilm geschaffen, der trotz einiger Brüche wohltuend unterhaltend und professionell daherkommt.

Schatten der liebe 3

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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