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Am ende der nacht 1

Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht ist kein optimistischer Film; er führt sein Publikum auch nicht an die Punkte, an denen der Held «falsch» entschieden, «falsch« gehandelt hat; das Publikum darf sich auf keinen Fall als Richter oder Geschworener über diesen durchschnittlichen Menschen stellen.

Text: Martin Schaub / 01. Aug. 1992

«Wes das Herz voll, des geht der Mund über»: Schön wär's. Christoph Schaub und sein Drehbuchmitautor Martin Witz jedenfalls glauben das nicht mehr. Ihre Lebenserfahrung geht anders, und die traurigen Geschichten, die man täglich im «Blick» und auf der «Kehrseite» des «TagesAnzeigers » liest und etwas weniger unbeteiligt, dafür ausführlicher, fragender und selbstkritischer in den Gerichtsreportagen von Fritz H. Dinkelmann und Laure Wyss, teilen einen ganz anderen Befund mit. Sie berichten von Menschen, die das Leid in sich hineinfressen, weil sie es nicht mitteilen können und deshalb «selber damit fertig werden müssen«. Christoph Schaubs dritter Spielfilm handelt von den stummen Leiden des Alltags, von jenem schleichenden Frust, der sich anhäuft und anhäuft und einmal zu gross ist, um bewältigt zu werden. Das Drehbuch und der Film beginnen in der Endphase einer langen Geschichte von Kränkungen, kurz vor dem point of no return. Und damit ist auch schon gesagt, dass Am Ende der Nacht den Zuschauern viel von der Vorgeschichte des Robert Tanner, seiner Frau Edith und seinem Sohn Beni schuldig bleibt, beziehungsweise erspart. Sie sehen nur die Dämmerung und die Nacht des Lebenslaufs eines Menschen, der mit den Umständen und mit seiner Geschichte nicht mehr zu Rande kommt, und nicht den langen bösen Tag davor, der Stück um Stück des Glückstraums gefressen hat. Der Autor geht von der Annahme aus, dass jeder Zuschauer und jede Zuschauerin die einschlägige Erfahrung mitbringt. Am Ende der Nacht ist kein optimistischer Film; er führt sein Publikum auch nicht an die Punkte, an denen der Held «falsch» entschieden, «falsch« gehandelt hat; das Publikum darf sich auf keinen Fall als Richter oder Geschworener über diesen durchschnittlichen Menschen stellen, der es immer (und allen) recht machen will und schliesslich zwei Leben auslöscht; ein paar fragmentarische Rückblenden müssen genügen: Robert und seine Familie, früher, vor ihrem Wohnblock am Stadtrand, Robert und Edith auf einem verliebten Ausflug in Brig, Robert und Edith als Brautpaar. Ihr Leben ist einmal anders gewesen, aber das ist lange her.

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Die Figur Tanners ist in den ersten zwei Filmen von Christoph Schaub kaum angelegt. Nur einmal ist in Wendel (1987) von einem die Rede gewesen, der nicht mehr zum Milieu der unentschiedenen Herumhänger und «Lebenskünstler» gehört; er wohne, scheint's, irgendwo draussen, mit Frau und Kind. Und einmal lügt Tanner seiner Frau vor, er habe sich mit «Georg» von der Konzertagentur besprochen, und er könnte dort jederzeit anfangen; dieser Georg könnte einer vom Kreis um Wendel sein. Die jungen Männer und die Frau von Dreissig Jahre (1989) hatten andere Probleme; sie verteidigten ihre Träume gegen den Alltag. Und sie redeten und redeten, schrieben Briefe. Robert Tanner aber hat keine Sprache für sein Leiden; er ist – im Gegensatz zu den Generationsgenossen der ersten beiden Filme – in keiner Weise ein Poet. Die beiden ersten Filme trieben sich, auf bemerkenswert ironische und selbstironische Art in grossstädtischen gesellschaftlichen Exklaven herum. Jetzt wendet sich Christoph Schaub, inzwischen über «dreissig Jahre» alt, der Mehrheit zu, jenen, die sich nicht mehr einreden, unverwechselbar und einmalig zu sein. Er will als kritischer Schilderer des normalen Alltags ernstgenommen werden. Oder anders: In den Mittelpunkt seines dritten Films hat er einen gestellt, der sich für den «Ernst des Lebens» entschlossen hat und der an ihm zerbricht.

Die Tatsache, dass Robert Tanner nicht sagen kann, was er leidet, aber (ver)führt sowohl den Autor als auch den Zuschauer dazu, es an seiner Stelle zu tun. Ein Muster von Zuschauerreaktion ist der Text des Zürcher Psychiaters Daniel Meili, den Schaub seinem Film im Pressematerial als Proviant auf die Reise zu seinem Publikum mitgegeben hat. An des Autors Stelle würde ich ihn gleich wieder aus dem Verkehr ziehen – zu viele Wörterangebote für die Sprachlosigkeit. Schaub hat in den Film selbst schon eine Vielfalt von demonstrativen erzählerischen und formalen Unterstreichungen eingebaut, und zuviel ist einfach einmal zuviel. Denn man soll ja vor allem die Fassungslosigkeit des Autors vor der versteckten und unbegreiflichen Logik seines Normalbürgers spüren, der auf die absurdeste Art der Zerstörung seines «bürgerlichen» Traums ein Ende setzt. Diese Fassungslosigkeit scheint mir die Grundierung der ganzen Erfindung zu sein. Doch mein Eindruck ist auch, dass ihr Christoph Schaub nicht ganz standgehalten hat. Wozu sonst die ab und zu eingestreuten Zeitlupesequenzen, die von Thomas Bächlis Filmmusik unterstrichene subjektive Kamera, wozu sonst die «Wahrheiten», die die Hauptfiguren sagen, ohne sie, im Gegensatz zum Publikum, zu verstehen. (Edith: «Wir werden hier noch ersticken.») Schaub hat der Versuchung nicht widerstehen können, den Zuschauerinnen immer wieder das «Bezeichnende» anzuliefern: Robert Tanner hat sich nicht nur ein Eigenheim, sondern auch einen blauen Small Jeep gekauft und muss ihn in seiner Finanznot wieder verhökern; er versucht auf rührende Weise, seinen Halt in und seine Liebe zu der Familie zu formulieren und wird dadurch in den Augen seiner Frau «so komisch»; er fängt Fliegen für seinen Frosch; die Nachbarn sitzen zufrieden am Gartentisch, und sie haben «sogar» ein zweites Kind; im Fernsehen läuft eine Reportage über korsische Waldbrände; ein Mädchen liest im Zug nach Italien Oriana Fallacis «Brief an ein nie geborenes Kind».

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Die Konzentration auf die eine Hauptfigur bringt es mit sich, dass kaum etwas in den Film Eingang findet, was «nicht dazu» gehört. Die Bilder haben eine Art Beweischarakter; die Kamera ist immer dort, wo sich das Unbegreifliche zusammenbraut. Verstörend allerdings könnten Bilder sein, die ihren Eigenwert behalten; diese Chance hat der konzentrierte Autor nicht wahrgenommen. Irgendwie, scheint mir, übernimmt der Film die Optik seines Helden, der alles auf sich bezieht, weil es ihm so verschissen geht.

Dem Hauptdarsteller Peter von Strombeck gelingt es allerdings oft, den zur Demonstration neigenden Film über sich hinauszuführen, sozusagen ins Leben, das nicht in Begriffen daherkommt. Die Nebenrollen – der Inspektor von Tanners Firma, die Verkäuferinnen und Kundinnen, der geldeinfordernde Taxihalter, die jugendlichen Herumhänger, die Typen von der Videothek und sogar Edith und Beni – dürfen ihre definierte Bedeutung, ihren Stellenwert, kaum sprengen. Die Offenheit gelingt im zweiten Teil des Films, während der Flucht Tanners nach der Verzweiflungstat, wesentlich besser. Nachdem der Autor den Doppelmord hinter sich gebracht hat, öffnet er sich ein Stück weit der sichtbaren Welt; die Dämmerungsszene vor dem Bahnhof von Cavigliano, wo sich Tanner nach dem nächsten Zug erkundigt, übertrifft atmosphärisch alle vorangegangenen.

Es ist, wie wenn, sobald Tanner in Zürich den Zug besteigt, eine Verpflichtung vom Autor abgefallen wäre, der Zwang, die Welt – nach seiner Story – zu ordnen. Jetzt kommt etwas Luft unter die Glasglocke. Der Film entlässt seine Zuschauer versuchsweise in die Freiheit der eigenen Beobachtung und Empfindung. Das mag zwar die Strategie des ganzen Unternehmens gewesen sein. Und dennoch bleibt die leise Lehrhaftigkeit des ersten Teils als Hypothek in Erinnerung.

Am Ende der Nacht ist der hochinteressante Versuch eines jüngeren Filmautors, seinen Blick über die eigene Sonderwelt hinaus zu öffnen. Wann hat man zum letzten Mal im Kino einen Filialleiter als Helden gesehen, wann die stinknormale Langeweile einer undefinierten Kleinstadt – des Normalfalls zwischen München und Lausanne, zwischen Mailand und Karlsruhe – als Lebens- und Sterbenshintergrund, und wann zum letzten Mal haben sich in hiesigen Filmen die Figuren nicht selber verbal erklärt?

Am Ende der Nacht mag ein Zwitter sein, ein Film voller stilistischer Widersprüche, ein Film zwischen Beobachtung und Behauptung, zwischen Naturalismus und metaphorischer Stilisierung. Und viele mag er deswegen kalt lassen. Mir erscheint er gerade in dieser seiner eigenen Unordnung interessant und authentisch. Er ist ein echter Ausdruck einer Zeit, die den Zusammenbruch der Utopien und der damit verbundenen Wertbegriffe erlebt: der Versuch, eine Notration von kritischer Erkenntnis zu retten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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