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Big bang 1

Big Bang

Warum es statt etwas nicht einfach nichts gebe, so lautet, lapidar, der erste Kommentarsatz des Dokumentarfilms Big Bang. Matthias von Gunten versteht es, von seinem doch recht lehrhaften Thema eine ganz und gar nicht lehrhafte Darstellung zu geben.

Text: Pierre Lachat / 01. Juli 1993

«Warum gibt es etwas, warum gibt es nicht beispielsweise nichts?» Bekanntlich wirken die Fragen nach Sein oder Nichtsein selbst dann noch, wenn sie immerzu neu gestellt werden, nicht weniger abgründig-ernst und auf ewig unbeantwortbar, als sie ursprünglich gemeint waren. Kraft steter Wiederholung beginnen sie sich aber auch einmal unvermeidlicherweise komisch auszunehmen. So ist zum Beispiel Hamlets bewusster Monolog längst beides geworden, sowohl ein klassisches Stück philosophischer Poesie wie auch eine alltägliche Redensart an der Strassenecke.

Warum es statt etwas nicht einfach nichts gebe, so lautet, lapidar, der erste Kommentarsatz des Dokumentarfilms Big Bang. Matthias von Gunten versteht es, von seinem doch recht lehrhaften Thema eine ganz und gar nicht lehrhafte Darstellung zu geben. Mehr noch, der Gegenstand sieht sich seiner Aura, hochabstrakte Fachidiotensache zu sein, umgehend entkleidet. Und zwar ist das spätestens dann der Fall, wenn es einer der befragten Kapazitäten von internationalem Rang – an einer Stelle, wo sie weissgott selbst beschlagen sein müsste –, nur noch entfährt: «Da müssen Sie einen Spezialisten fragen!» Den spontanen Aberwitz dieser Auskunft bemerkt der Gewährsmann sichtlich erst im Augenblick selbst, da er sie schon erteilt hat. Gleich vom Anfang an – der dem Anfang der Anfänge nachgehen will – hat die ganze Arbeit soviel Profundes und Gelahrtes wie Spielerisches und Absurdes an sich. Frohen Mutes bekommen es Teilchenphysik und Infantilismus miteinander zu tun, und kaum anders ergeht es Philosophie und Humor. Das verzauberte Lächeln des Astrophysikers über dem Modell eines neuen Riesenteleskops verrät nichts anderes als kindliche Seligkeit beim Auspacken eines eben geschenkt erhaltenen Spielzeugs.

Der Sinn des Sinns

Wozu eigentlich das Ganze? Recht geläufig – und zweifellos mit gutem Grund – richtet sich diese Frage gerade an die Urknallkunde, die von den reicheren Staaten der Welt mit beträchtlichem Aufwand betrieben wird, wie der Film belegt. Doch liesse sich die Frage leicht auf alles übertragen, was etwas ist. Und sie könnte nicht zuletzt an den Film selbst gelten, den es ja seinerseits kaum zwingend zu geben brauchte. Nicht einmal in einem publizistischpropagandistischen Nutzen findet er seinen Daseinsgrund, lässt es sich doch für den Urknall nun einmal keine Absatzförderung betreiben wie für einen Markenwhisky.

Und wenn es also heisst: Welches mag der Sinn des unablässigen teuren Experimentierens mit all den immer aufwendigeren Geräten und Anlagen vom Typ des Genfer CERN sein, vom Filmen darüber nicht zu reden?, dann kann die Antwort nur lauten: Bitte sehr, worin besteht denn der nachweisbare Zweck von etwas? Oder: noch, sophistisch zugespitzt, welches denn der Sinn des Sinnes sein könne.

Unbeantwortbarkeit zieht da wie gewohnt die ebenso zeitlose wie selberdann kaum weiterführende Gegenfrage nach sich, woher nämlich das Problem überhaupt rühre. Wenn etwas – zum Beispiel der «Big Bang», der dem Film seinen Titel gibt – unvorstellbar ist und vermutlich weiter nichts als ein mathematisches Modell, nur im theoretischen Kalül simulierbar, dann steht unser Vorstellungsvermögen zur Debatte. Und wir denken uns dann unwillkürlich ein solches aus, welches die offensichtliche Beschränktheit des unsern um Vielfaches, sogar unendlich übertrifft. Erst diese höhere, vielleicht absolute Kapazität (wenn es sie gibt) vermag zu begreifen, was der Sterbliche nicht fassen kann, nämlich wie aus nichts etwas wird (oder umgekehrt). Wer oder oder was immer den Urknall hervorgebracht hat – und sei er einfach sein Selbsterzeuger – , muss gewusst haben, worauf er oder sie oder es sich einliess.

Big bang 3

Dürrenmattsches Durcheinander

«‹Durcheinandertal› und jetzt besonders ‹Die Stoffe› sind Dürrenmatts Rekonstruktion des Urknalls. Er steigt in den Schacht, er jagt die Materie seiner Erinnerungen durch den Tunnel, er beschleunigt mit Phantasie, Assoziation und Logik, verwandelt sie in die Antimaterie des Denkens, der Urknall= Das Werk.»

Der Zufall, immerhin einer der Hauptakteure in der Kernphysik, spielt mir diese Zeilen aus «Die Frau im roten Mantel» von Charlotte Kerr zu. An anderer Stelle heisst es: «Wir drehen im CERN. Vierundzwanzig Kilometer Geisterbahn kilometertief unter der Erdoberfläche, riesige Lifte und Schächte führen hinunter, die Geisterbahn transportiert Antimaterie, die so beschleunigt wird, dass sie sich in Materie verwandelt, und in dem Moment der Verwandlung gibt's den Urknall, so entstand vielleicht die Erde, und das Experiment dient dazu, das zu wiederholen, man ist schon ganz nah dran ... »

Und Dürrenmatt selbst schreibt: «Wir glauben, von den ersten drei Minuten des Weltalls Sichereres zu wissen als von den ersten zwei, vielleicht drei Millionen Jahren des Menschen. Was dann kam, ist zeitlich nicht der Rede wert. Wir können nur raten, was in den letzten Zehntausenden Jahren geschah, nehmen wir alles in allem. Was wir Antike nennen, ist eigentlich noch Gegenwart, hundert Generationen zurück. Wie lange der Mensch hilflos vor den Schranken stand, die ihm seine Sterblichkeit setzte, wissen wir nicht. Er hätte zwar längst die Götter wegdenken können, aber er wäre frierend einem leeren Himmel ausgesetzt gewesen und hätte seine Vernunft verflucht. Zum Atheismus braucht es Mut. Doch mit der Sterblichkeit hat Zeus dem Menschen unfreiwillig eine Fähigkeit verliehen, von der er sich als Gott ebensowenig eine Vorstellung machen konnte wie vom Tod.»

BB = DD

Schon vor langer Zeit hat jemand einmal zu erklären begonnen, derlei Spiralen von Sinn und Widersinn, von Vor- und Unvorstellbarem - oder von Materie und Antimaterie, wie wir heute wohl sagen würden - müssten letztlich von der Forschung und Philosophie wegführen und zur Religion oder Irreligion hinüberleiten. Denn was die Vorstellung übersteigt (und die sogenannte Beweisbarkeit), das lässt sich ja immerhin, jenseits von Gewissheit und Anschaulichkeit, noch glauben, beziehungsweise eben nicht glauben. Dankbar dient der Umstand, dass alle Fragen, die man als wirklich wichtig bezeichnen kann, ohne Antwort bleiben müssen, dem Gläubigen als Gottesbeweis. Zugleich kommt der Atheist zu seinem Beweis von Gottes Inexistenz, und selbst der unentschiedene Agnostiker kann sich noch ein Stück von dem üchen abschneiden. Der Vatikan-Beauftragte für Urknallforschung, der zwischen Messen die religiösen Implikationen der entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnis untersucht, ist zweifellos von allen die beziehungsreichste Figur, die von Gunten Red und Antwort steht.

Wissen also die Urknallforscher, wonach sie forschen? «Solange ihr mich nicht fragt», sagte Plato (glaube ich, oder Sokrates), «weiss ich es. Aber wenn ihr mich fragt, dann weiss ich es nicht.» Vielleicht «gibt», beziehungsweise «gab» es jenen sagenhaften BB gar nicht im Sinn von «geben», einem möglicherweise falsch gewählten Wort. Er wäre dann in Wahrheit bloss eine schöne Hypothese und Glanzleistung unseres bildlichen und gedanklichen Vorstellungsvermögens und damit auch wieder nichts anderes als ein Mythos, ein Stück Wissenschaft, Poesie, Philosophie, Religion, Aberwitz und Widersinn, alles zugleich, soviel wie ein Dürrenmattsches Durcheinander oder DD.

Mehr als einer der Urknallforscher in von Guntens Film neigt diesem Schluss zu, liebäugelt mit ihm als seiner still privaten Lösung des Problems. Und das ist zweifellos das Schönste an dem Ganzen, der Gedanke nämlich, dass jede Erkenntnis, auch die schwersterhältliche, nur gerade so viel Wert ist, wie der einzelne für sich daraus macht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1993 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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