Filmbulletin Print Logo
Tanz der blauen voegel 1

Tanz der blauen Vögel

Lisa Faessler kannte man bislang als Autorin zweier einfühlsamer Dokumentarfilme über das Leben von Shuar- und Secoya-Indianern im ecuadorianischen Urwald. Jetzt überrascht die Zürcher Filmerin mit einem auf Zuspitzungen hin montierten filmischen Essay thematisch mitten aus Europa, gedreht an tschechischen und schweizerischen Schauplätzen mit engem Rahmen und weitem Feld.

Text: Walter Ruggle / 01. Aug. 1993

Lisa Faessler kannte man bislang als Autorin zweier einfühlsamer Dokumentarfilme über das Leben von Shuar- und Secoya-Indianern im ecuadorianischen Urwald. Jetzt überrascht die Zürcher Filmerin mit einem auf Zuspitzungen hin montierten filmischen Essay thematisch mitten aus Europa, gedreht an tschechischen und schweizerischen Schauplätzen mit engem Rahmen und weitem Feld. Ein politischer Film, aktuell, brisant, scharfsinnig. Was Lisa Faessler aus dem von Pio Corradi aufgenommenen Bildmaterial, aus Dokumentaraufnahmen, Spielfilm- und Videoclipausschnitten zusammen mit Jürg Hassler am Schneidetisch gestaltet hat, besticht in der formalen wie in der inhaltlichen Radikalität, ist ungewohnt im besten Sinn.

Der Film lässt nachdenken über Befindlichkeiten in einem Europa, in dem Verunsicherungen den Alltag prägen. Es ist ein Film über Menschen im Umfeld von Geschichte, ein Film über Gedanken und Gefühle in einer Zeit, in der Ideologien weggeschmissen werden wie schmutziges Klopapier. Nun wird das Jekami des freien Marktes zur alleinseligmachenden Religion erhoben, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Modifikationen, die da und dort vielleicht angebracht wären. Wilder Westen, allüberall. Tanz der blauen Vögel ist ein Film über die Suche nach neuen Identitäten und den Mangel an Willen zur Suche, ein Film über Einsamkeiten und Ängste und trotzalledem: Ein ausgesprochen kurzweiliger Essay zur Gegenwart, der auch formal aufs Präsens setzt.

Montagekino der überzeugenden Art

Lisa Faessler und Jürg Hassler montieren frech, gewagt, schnell und mit der Kenntnis um dramaturgische Wirkung. Sie hüpfen durch Räume, von Idee zu Idee, lassen tanzen und fallen, um plötzlich wieder aufzugreifen und einen Bogen zu schliessen. Die Äusserungen, die Bewegungen, die Gesten, das Verhalten der Menschen in Räumen: Da formt sich gleichsam vor unseren Augen und immer wieder aufs neue alles zu einer einzigen filmischen Skulptur, die am Ende in ihrer betonten Unförmigkeit im Raum steht: Europa 92 – ein grosses Fragezeichen, die auch filmisch immer irrer werdende Fahrt auf einen Zustand zu, der mit Verunsicherung nur unzureichend umschrieben ist, bei dem die Tatsache, dass Bestattungsunternehmer hüben wie drüben bereit sind, nur wenig Trost verschafft. Kann sich die Welt am einen Ort verändern und am andern bleiben, wie sie war? Beeinflusst hautnahe Erfahrung von Geschichte das Denken und die Denkprozesse? Warum lehrt die Geschichte nicht?

Ohne Vorspiel stösst uns Lisa Faessler von der ersten Einstellung an in den Strudel der Montagen: Hornussen hier, Panzerräder anderswo, ein russischer General, der sagt: «Dass der letzte russische Soldat aus der CSSR geht, hat mehr Gewicht, als dass der erste kam.» Ein Rocker namens Michael Kocäb hat in seiner Heimat die Verhandlungen über den Abzug der Armee geführt, und während das Militär bei den einen davonfährt, taucht es bei den anderen im friedlichen Dorfbild auf. Der Film macht Zusammenhänge sichtbar – weniger äussere als innere, gedankliche. Darauf müssen wir uns einstellen, und schon entfaltet sich dieses Montagekino in voller Blüte.

Die Gleichzeitigkeit des Anderen

Die Gleichzeitigkeit des Anderen ist denn auch so etwas wie das zentrale Moment in Faesslers Film. Die Autorin führt im Raum ihres Filmes zusammen, was auseinander lebt, spitzt zu, was nur zu gerne abgestumpft und vergessen wird. Das eine wäre das Näherliegende: Vechigen, eine Berner Gemeinde, 4300 Einwohnerinnen und Einwohner, Schweizer Mittelland. Das andere wäre das Ferne, Trhove Sviny, 4918 Einwohnerinnen und Einwohner, Südböhmen. Zwei Partnergemeinden, von denen die eine betont, die andere ernstzunehmen. In Vechigen, das spürt man, herrscht selbstverordnete Freude und Zufriedenheit. Da lässt man sich auch durch ein Ansinnen wie die Eingliederung in die Gemeinschaft europäischer Staaten nicht verunsichern. Die liebenswerte Vechiger Bäuerin und Frau des Ammanns, der Europa gegenüber offen gesinnt ist, meint: «Ich möchte mich nicht abkapseln gegen die anderen, aber so lassen, wie es bisher war. Ich denke einfach, wir wollen frei sein, wie die Väter (sic!) waren. Ich dänke so gäng immerzue.»

In Trhove Sviny träumt man dagegen einen neuen Traum, nachdem der alte, der aufgezwungene, sich aufgelöst hat, nicht ohne markante Spuren zu hinterlassen, eine leere, die man sich nicht vollkaufen kann. Der neue Traum heisst freie Marktwirtschaft; wo früher Blechspielzeuge hergestellt wurden, entstehen heute Plastikpanzer und Spielzeugrennautos für den Westmarkt. «Wenn ich zaubern könnte», meint der Bestattungsunternehmer und Händler Popp, dann «würde ich zaubern, dass es bei uns so ist, wie ich im Fernsehen gesehen habe, dass es in Amerika ist.» Ist es ein Zufall, dass der grösste Arbeitgeber in Vechigen das Alters- und Pflegeheim ist, in Throve Sviny die Spielzeugwarenfabrik?

Tanz der blauen voegel dreh 2

(Bild: Dreharbeiten zu Tanz der blauen Vögel)

Ein Film der Zuspitzungen

In jedem Film stecken Zufälle, so wie das Leben voller Zufälle ist. Die grosse Kunst im Leben wie im Kino besteht darin, die Zufälle zu nutzen und Zusammenhänge zu schaffen. Lisa Faesslers Interesse galt schon immer den grösseren Zusammenhängen in dieser Welt. Ihr Ansatz ist ein anthropologischer, ein am Wesen des Menschen orientierter. Sie interessiert sich für den Menschen, den Hegel als Urheber seiner Geschichte bezeichnet hat, sie beobachtet den Privatmann, der gleichzeitig, ob er das will oder nicht, auch ein Gesellschaftsmann ist, ganz abgesehen davon, dass einem Tanz der blauen Vögel gleichsam als Studie von Männlichkeiten erscheint, bis hin zum «Gallo assoluto», dem Gockel par excellence, der an die alte Bauernregel erinnert: Kräht der Hahn auf dem Mist, so ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. Faessler setzt den einsamen Bauern in der Tschechoslowakei dem als Dorfpräsident engagierten Schweizer Bauern in Vechigen gegenüber. Nicht physisch, aber über die Montage, den Zusammenhang des Films. Dasselbe macht sie mit den beiden Unterhändlern, macht sie mit den beiden Fabriken, macht sie mit den beiden Bestattern. Aber nicht in einer additiven Montage, sie setzt auf den Diskurs der Bilder, der Sätze, der Töne, spinnt viele Fäden, die allmählich zusammenlaufen.

Immer wieder sehen wir, wie dank der Montage einer dem anderen zuhört und dann womöglich weiterfährt im Text. In solchen Momenten schafft das Dokument die Fiktion der Begegnung, erzeugt die Montage die Spannung des Widerspruchs, des Gegensatzes, ja mehr noch: In diesen zunehmend frecher werdenden Momenten kommentiert der Film sich selber mit den Mitteln des Films.

Mosaik mit schillernden Teilchen

Da hören wir ab Bildschirm den EWR-Unterhändler Franz Blankart am 6. Dezember (EWR-Abstimmungstag) sagen: «Bei uns entscheidet das Volk, und das Volk hat immer recht.» Der Bestattungsmann aus Vechigen ist überzeugt: «Das tuet's Vouk beschäftige, irgedwie.» Und der Bauer in Trhove Sviny fügt hinzu: «Das ging lustig zu. Uns hat man in zwanzig Minuten geschieden.(. .. ) Ich wünschte mir, nicht allein sein zu müssen, das ist das schlimmste für einen Menschen.» Schweizer Tagesschau, «Guten Abend, meine Damen und Herren. Die Schweizer Stimmberechtigten haben den EWR abgelehnt.» Dazu ein Bild vom Hornussen, wo nach einem Abwehr-Schlag die Männer förmlich in sich zusammensinken, ein Gestus des Loslassens nach angespanntem Zuschauen. Der Kommentar kommt über den Zusammenhang, denn nun folgt der gemischte Trachtenchor: «Wenn wir froh mit Pferd und Wagen, durch die schöne Landschaft fahren, liegt für uns die ganze weite Welt in hellem Sonnenschein.» Gesungen wird im Altersheim, getanzt dazu, und schon zieht sich ein Hornusser den Kopfschutz über. Tanz der blauen Vögel ist ein filmisches Mosaik, bei dem jedes einzelne Teilchen für sich schon schillert, und der wahre Glanz sich im Gesamten entfaltet.

Identitäten in wandelndem Umfeld

Der Schweizer EG-Unterhändler Franz Blankart wirkt ernst, spricht immer hochdeutsch, mimt seine Lebensrolle. Der tschechische Abzugs-Unterhändler Michael Kocab lacht, spielt Leben. «Die Schweiz», meint Blankart, «hat sich seit 1945 als das definiert, was sie nicht ist. Als nichtkommunistischer, nicht armer, nicht EG-Staat, der an internationalen Konflikten nicht teilhat.» Und Kocäb sitzt mit einem Massstab im Sessel seines Wohnzimmers. Eines teilen der Bürgermeister von Trhove Sviny und Veehigen: Sie würden, wenn sie zaubern könnten, das Geld herzaubern, das ihre Gemeinde von Schulden befreit. Der Gemeinsinn im engeren Sinn ist durchaus intakt.

Es geht in Lisa Faesslers Film um Identitäten im sich wandelnden Umfeld. Während der höchste Schweizer Beamte reproduziert, was er im Lauf seiner Bildung und Karriere gelernt hat, stellt der Rockmusiker Kocáb Fragen und in Frage, auch sich. Hier Zufriedenheit bis zur totalen Erstarrung, dort Unzufriedenheit, die lähmt. Strasky, der junge Bürgermeister von Trhove Sviny, muss damit umgehen lernen, dass sein Grossvater als Kapitalist nicht gerne gesehen war und Kapitalismus heute das grosse Glück bringen soll.

Sinn für Körpersprache

Pio Corradi betrachtet all diese Leute in Räumen, lässt ihre Körpersprache Bände reden. Da ist Blankart, der Nichtaristokrat, der sich das Schlossherrendasein mieten konnte, der höchste Beamte der Schweiz. Da ist Kocäb im Schaukelstuhl, der meint: «Wenn ich Berufspolitiker werden wollte, müsste ich mich irgendwie dazu vorbereiten, müsste mich mit mir selber auseinandersetzen, auch mit meiner, wie man sagt, Identität.» Blankart scheint diese Probleme nicht zu kennen. Hinter ihm hängt ja ein Spiegel, während eine Geige die Wand bei Kocáb ziert. Zufall? Betimmt. Aber auch: nicht nur.

Wenn Blankart zaubern könnte, so würde er ich nicht wie die Gemeindeammänner ums Wohl des Gemeindewesens kümmern, nein: «Ich würde versuchen, zu einem Vogel zu werden. Zum blauen Vogel im vierten Akt von Dornröschen. Jetzt schliesst sich der atemberaubende Bogen des aussergewöhnlichen Films. Der Rockmusiker Kocáb, mittlerweilen ohne Publikum (das hört westliche Musik) und ohne Inspiration (die ging mit der Identität flöten), blickt hoch, dem fliegenden Blankartvogel nach, und schon holen Hornusser den Vogel aus der Luft herab, und Kocáb singt: «Ich kannte einen Kerl, dem fehlte der Verstand, der hatte keine Scham, nur Gier nach Neuigkeit. Nur sein Hut machte ihn zum Herren.» Da spricht alles für sich.

Tanz der blauen voegel dreharbeiten

(Bild: Dreharbeiten zu Tanz der blauen Vögel)

Michael Kocáb – Komponist, Musiker

Michael Kocáb spielt in Lisa Faesslers Film eine besonders wichtige Rolle. Der tschechische Musiker und Komponist tritt nicht nur als Person in Erscheinung, er ist präsent durch seine Musik, durch Ausschnitte aus jenem Film, den er mit Vera Chytilowa gedreht hat (Prag – Das unruhige Herz Europas) und durch seine Videoclips, die Lisa Faessler und Jürg Hassler mit inspiriert haben zu einer albtraumhaft- endzeitstimmigen Schloss-AKW-Sequenz. Über Michael Kocáb war in der Zeitschrift «Der tschechische Film» (89/4) zu lesen:

«Die Art und Weise, auf die er sich über das musikalische Schaffen grossspurig hinstellt, ist tatsächlich eindrucksvoll. Er komponiert avantgardistische Rock-Musik, lnzidenzmusik (zu Filmen und Theaterstücken) und sinfonische Musik, kann Chansons und Mainstream-Lieder schreiben ... Sein Schwung ist zwar nicht konzentriert, aber trotzdem in jedem einzelnen Musikgenre bemerkenswert. Michael Kocáb (geboren 1954) lernte das Klavierspiel seit seiner Kindheit. Während seines Studiums am Gymnasium tritt er in der aus Amateuren zusammengesetzten Jazzband Collegium per Musicam Novam auf (dort spielte er überraschenderweise Schlaginstrumente), später konzentrierte er am Prager Staatlichen Konservatorium sein Interesse auf das Orgelspiel und Komposition. Er nahm an von verschiedensten populären Sängern unternommenen Tournees in der Provinz teil, kokettierte mit der Folk-Music und gründete seine eigene musikalische Gruppe Die Prager Auswahl. Er interessiert sich für Philosophie, hält musikalische Befähigung für einen Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit und meint, dass das musikalische Schaffen unter anderem ein Bild der menschlichen Qualitäten seines Verfassers bieten soll. Den Ansichten Kocábs entspricht am meisten die Barockmusik, aber auch die Werke von Chick Corea und Karel Velebny. In der bildenden Kunst betrachtet er Hieronymus Bosch und Salvador Dalí als seine Ideale, in der Literatur lässt er nichts auf Dostojewski kommen. Ein untrennbarer Bestandteil des Schaffens Kocábs ist die Filmmusik, der er sich mit Eifer vor allem in der Zeit widmete, in der er mit der Prager Auswahl nicht auftreten konnte. Dies war und ist jedoch keine aus der Not gemachte Tugend, da gerade lnzidenzmusik seinen verzweigten musikalischen Interessen völlig entspricht. Seine Partituren leben in den Filmen Prag – Das unruhige Herz Europas (Regie Vera Chytilova), Der Rattenfänger (Jiri Barta), Die Galoschen des Glücks, Eine Elster im Netz und Mich überfiel die Nacht (alle von Juraj Herz inszeniert) auf, um nur einige wahllos zu nennen, und er beteiligte sich als Komponist der Musik am Projekt Odysseus (Regie Evald Scharm), das im Prager Theater Laterna Magika aufgeführt wurde. Sinfonische Musik komponierte er für das Mausoleum in Tunis und den tschechoslowakischen und einen der kanadischen Pavillons an der in Vancouver veranstalteten Weltausstellung '86, als Autor, Instrumentenspieler und Sänger macht er Schallplattenaufnahmen, in seiner Darbietung wurde Petr Hapkas und Michael Horaceks Ballade «Mit einer fremden Frau in einem fremden Zimmer» zur populärsten Schallplatte des Jahres 1988.»

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1993 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

27. Okt. 2020

Antebellum

Plansequenzen, die das Grässliche hinter der Idylle verraten, Erzählebenen, deren Verhältnis sich erst am Ende ergibt – trotz vielversprechendem Set-up verschiessen die Regie­debütanten Bush und Renz ihr Pulver leider verfrüht.

Kino

05. Nov. 2014

Deux jours, une nuit

Was ist eine menschliche Existenz wert? Diese gewichtige Frage dient als Ausgangspunkt von Deux jours, une nuit, dem neuen Film des belgischen Regieduos Luc und Jean-Pierre Dardenne; und sie nehmen sie wörtlich.

Kino

05. Nov. 2014

Einer nach dem andern / Kraftidioten

«Auge um Auge, Sohn um Sohn.» Nach diesem Prinzip verläuft Hans Petter Molands Rachegeschichte, mit der er sich einen Bubentraum erfüllt und einer bekannten Phantasie den audiovisuellen Echoraum verschafft hat.