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Les mouvements du desir

Mouvements du désir

Zweifeln wir an der Glaubwürdigkeit von Léa Pools Darstellung weiblicher Sexualität, so liegt der Verdacht nahe, dass sie uns in Mouvements du désir lediglich abgestandene Männermythen auftischt.

Text: Sabina Brändli / 01. Juni 1994

Ein Mann und eine Frau lernen sich in der Eisenbahn auf der Fahrt von Montreal nach Vancouver kennen und lieben. Aus dem vorsichtig zur zückhaltenden gegenseitigen Beschnuppern entsteht erotische Anziehung. Die Lust auf den andern wächst, bis sie im Finale, im sexuellen Akt im Gepäckwaggon, gleichsam explodiert, sich ausleben darf. Der Wunsch des Paares, der Zug der Liebe möge nie mehr anhalten, geht in Erfüllung: die nächste Station wird vom Zug ignoriert. Er fährt weiter, ohne von den Fragen der irritierten anderen Gäste und vom verblüfften Personal Notiz zu nehmen. Soviel zum Erzählbaren aus Léa Pools Mouvement du désir.

Die Inhaltsangabe sagt wenig über den Film aus. Praktisch nichts wissen wir dadurch über die Art, wie die wachsende Begierde gezeigt wird. Zuerst zum Handfesten. Vincent und Catherine, das junge, werdende Liebespaar im Zentrum des Films, wird, anders als die übrigen Figuren, ganz zu Anfang in der Welt ausserhalb des Zuges verankert. An zwei nebeneinander befindlichen öffentlichen Telefonen im Bahnhof stehen die Beiden. Sie kennen sich noch nicht. Aus den Fetzen der Telefongespräche rekonstruieren wir gegensätzliche Situationen. Catherine, in der Krise, weiss nicht mehr, wo sie steht, verabschiedet sich, verlässt einst Geliebtes, um zur Reise ins Ungewisse aufzubrechen. Vincent, zärtlich in den Hörer flüsternd, wird am Ende seiner Fahrt von einer geliebten Frau erwartet.

Ein kleines Mädchen, Charlotte, die Tochter Catherines, verkörpert nicht nur die Vergangenheit ihrer Mutter, sondern auch die andere Gebundenheit Catherines. Im Gegensatz zu den übrigen Figuren entwickelt das Kind ein Eigenleben. Mal stört es durch blosse Anwesenheit das Liebesabenteuer der Mutter, mal agiert es als Kupplerin. Im übrigen pflegt es seine eigenen Angelegenheiten. Als einzige Figur verfügt das Mädchen über eine gewisse Komplexität und lebendige Widersprüchlichkeit. Sogar die zwei Hauptprotagonisten wirken dagegen erstaunlich blass und flach. Sonst existieren nur typisierte Nebenfiguren – ein altes Paar voller Liebenswürdigkeit, ein väterlich-wohlgesinnter älterer Herr, eine blinde Mutter und ein Selbstmordkandidat – die Fragmente einer Gesellschaft andeuten.

Zugfilme

In einem Pariser Reprisenkino stand Anfang des Jahres ein regelrechtes Zug-Film-Festival auf dem Programm. Die Vielfalt der unter diesem Nenner gezeigten Filme verweist auf die Tradition, die der Zug als Filmmotiv hat. Welche Aspekte des Motivs nimmt Léa Pool auf? Das «huis-clos» – Gefühl, das sich bei einer langen Fahrt praktisch gezwungenermassen einstellt, interessiert die Filmemacherin wenig. Trotz der typischen Eisenbahngänge kommt kein Gefühl der Enge und des Eingeschlossenseins auf. Geräumige Kabinen mit bequemen Dusch- und Waschgelegenheiten, ein riesiges Wagenrestaurant und eine Bar mit Tanzfläche erwecken den Eindruck luxuriöser Raumfülle.

Die isolierten Nebenfiguren reagieren nur auf das Paar im Zentrum und treten sonst kaum miteinander in Verbindung: als prominent ins Bild gesetzte Statisten, als Skizzen von Figuren, eignen sie sich lediglich als Projektionsflächen für die Hauptfiguren. Eine an sich vielversprechende Idee, die Léa Pool erzählerisch auf einem Nebengleise verfolgt, will allerdings zu dieser aus Statisten zusammengesetzen Pseudo-Gesellschaft nicht recht passen und funktioniert denn auch prompt nicht.

Der Zug eignet sich wie der Ozeandampfer besonders als Raum für die Darstellung eines Mikrokosmos. Kritische Filmemacher bedienen sich gerne dieses Motives, um das schlechte Funktionieren einer Gemeinschaft darzustellen. Ganz so radikal-desaströs wie in Alexander Rogoschkins Gefängniszug im Film Die Wache (Karaul, 1989) muss der Befund dabei keineswegs ausfallen. Der Zug kann auch den Raum für einen simplen Whodunnit liefern: Murder on the Orient Express (Sidney Lumet, 1974) oder auch in einem billigeren Zug. Léa Pool nimmt das Motiv auf, indem sie in kurzen Flashs eine nicht erkennbare Person zeigt, die in offensichtlich fremden Koffern wühlt. Ein Dieb, Detektiv, Staatsschützer oder Mörder? Erst gegen Schluss wird das Rätsel gelöst und vage mit der Hauptgeschichte verbunden. Der Selbstmordkandidat war am Werk. Durch das keineswegs kriminelle Vertauschen von Gegenständen verschiedener Besitzer sorgt er für Aufregung. Die Kommunikation, die durch den an Happening-Ideen der siebziger Jahre erinnernden «Sponti-Akt» entstehen könnte, wird allerdings nicht mehr gezeigt. Die Figur könnte das Erzählmuster des Whodunnit im Zug innovativ auf die Schippe nehmen, doch die Figur hat gemäss Drehbuch plötzlich anderes vor. Die Idee wird aufgegeben, bevor sie Wirkung entfalten konnte.

Zug der Leidenschaft

Doch im Zug wird nicht nur gestohlen, spioniert, Gewalt ausgeübt, gemordet, sondern auch begehrt und geliebt. Der Titel des Films Mouvements du désir setzt plakativ Prioritäten. Nicht nur auf der Leinwand gehören der Zug und die Zugfahrt ins Reich der gängigen sexuell-erotischen Phantasmagorien. Überlassen wir die Welt ausserhalb des Films den Psychoanalytikern und Traumdeutern. Auf der Leinwand ist das Motiv gleichsam doppelt sexuell konnotiert. Einerseits wurde vor allem in der Bl ütezeit der Zensur in der Hays Code-Ära des klassischen Hollywood der vorbeibrausende Zug (wenn nötig präzisiert durch eine Tunneleinfahrt) als Visualisierung des tabuisierten sexuellen Aktes benutzt. Doch das ist es um den Zug als sozialen Raum. Die Abgeschlossenheit und die Nähe (im Schlafwagen sogar intime Nähe) zwischen Fremden lassen Beziehungen wachsen. Die quasi erzwungene Passivität während der Fahrt schafft Zeit für Imaginationen, die Fensterscheiben als Spiegel und Projektionsflächen beg ünstigen wie die rhythmischen Bewegungen des rollenden Zuges ein erotisches Klima. Ein ganz typisches Beispiel: Marcello Mastroianni wird in Federico Fellinis La Città delle donne (1980) durch die gegen übersitzende schöne Unbekannte zu allerlei Träumen angeregt. Aus der Vorstellung eines ausgesprochen engen Beisammenseins in der Zugstoilette entwickelt sich das abendfüllende Traumgesicht der Stadt der Frauen. Ein älteres Beispiel: Die vor Sinnlichkeit zleichsam strotzende Luft det zum Boudoir umfunktionierten Zuaabteild hat wohl keiner betörender inszeniert als Josef von Sternberg in Shanghai-Express (1932) mit der im Zigaretten-Rauchnebel zur Ikone verklärten Marlene Dietrich.

Die am Zug vorbeiziehenden Landschaften – durch die Rahmung und die Bewegung der Bilder durchaus in Analogie zur Kinosituation – zeigen bei Léa Pool eelenlandschaften: erschneite und vereiste, sonnendurchflutete Gefilde, dann wieder gl ühende, rotflie ende Ströme. Kaum Bahnhöfe. Ganz anders als etwa bei Chantal Akerman bleiern einsamer Frauenfigur Anna in Les rendez-vous d'Anna (1978), der die Anonymität der vorbeiziehenden nächtlichen Grosstadtbahnhöfe zum Inbegriff der Fremdheit, schmerzlich empfundener Unabhängigkeit und Losgelöstheit werden lässt, erscheinen die wenigen Haltestellen in Mouvements du désir idyllisch dörflich.

Les mouvements du desir 2

Beim aus dem Fensterschauen steigen innere Bilder auf. Diese auf den ersten Blick surrealistisch anmutenden Kompositionen sind wie die Schlafwagenträume als Verarbeitung der gegenwärtigen Situation und der Vergangenheit von Vincent beziehungsweise Catherine lesbar. Kindheitsängste, Trennung und Verlust von geliebten Personen, aber auch Vorwegnahme der sexuellen Erfüllung. Oft wird im Traum wiederum eine Leinwand oder ein Fernseh-Bildschirm eingesetzt. Die Traumbilder erscheinen komplexer, vielschichtiger. Die Bilder sind trotzdem auf eine eindeutige Aussage hin dechiffrierbar. Dies unterscheidet sie beispielsweise von der Irrealität von Traum- oder Vorstellungsbildern wie sie der Nouveau-Roman-Autor und Regisseur Alain Robbe-Grillet (Trans-Europ-Express, 1966) verwendet, ohne eine verbindliche Lesart vorzugeben.

Der erotische Traum von Catherine erscheint auf einer Leinwand. Das Publikum eines Zugkinos schaut sich den Film als Porno an. Catherine sieht sich im Traum aus einer Voyeurperspektive. Vincent drückt Catherine von hinten in Richtung der Zugfensterscheibe. Durch seine drängende Umarmung erscheint Catheri Catherines Vorderseite dekorativ auf der Leinwand des Zugkinos. Vincents Körper bleibt durch denjenigen Catherines praktisch verdeckt.

Diese Schlüsselszene illustriert am deutlichsten die Art und Weise, wie Léa Pool Begierde, Erotik und Sexualität zeigt. Die Regie ist in Frauenhand. Der weiblichen Figur fühlen wir uns zudem durch die Inszenierung näher als der männlichen. Zwar hören wir auch seine Gedanken in einer inneren Stimme und sehen Fetzen aus seiner Vorstellung, doch die Kamera ist öfter und näher bei ihr, legt häufiger ihr Inneres bloss als seines. Ihren Körper kennen wir. Wir sehen sie mehrmals gespiegelt mit blossem Oberkörper, sehen wie sie sich duscht, die Kleider wechselt. Und wir sehen sie, wiederum äusserst dekorativ, wie sie sich träumend im knappen Seidenhemd auf dem Bett mit eindeutigen Posen in ihrem erotischen Traum räkelt. Ihn sehen wir nie, nicht einmal ansatzweise, nackt. Er vollführt mit einer leichtgeschürzten Schwarzen einen Balztanz und beobachtet argwöhnisch Annäherungsversuche anderer Männer. Er reagiert, lässt sich von der sinnlich-schönen Catherine verführen. Wie er diese Liebe mit seiner Verbindung zur Welt ausserhalb des Zuges in Einklang bringt, erfahren wir nicht. Schenken wir Léa Pool Glauben, so wächst bei der Frau das Begehren narzisstisch durch eine Vergegenwärtigung des eigenen Verführungspotentials. Von seinem Körper, seiner Körperlichkeit träumt sie nicht.

Zweifeln wir an der Glaubwürdigkeit von Léa Pools Darstellung weiblicher Sexualität, so liegt der Verdacht nahe, dass sie uns in Mouvements du désir lediglich abgestandene Männermythen auftischt. Mit der Wahl von Valerie Kaprisky, einem Sexsymbol der achtziger Jahre, als weiblicher Interpretin ist dieser Verdacht zwar nicht zu erhärten, doch Léa Pool inszeniert den Star nicht einmal gegen sein Image. Bis in die Bewegungen (Tanz) und die Positionen, die Gesten des sexuellen Aktes hinein orientiert sie sich an den Filmen, die Valerie Kapriski berühmt gemacht haben: Breathless (1982) von Jim McBride und La femme publique (1984) von Andrzej Zulawski. Dass sich das Begehren einer unglücklich tristen Frau poolscher Prägung (in der Krise der Trennung und dann im hoffnungsfrohen Neuanfang) schliesslich nicht einmal mehr von demjenigen einer «öffentlichen Frau» von Zulawski unterscheidet, könnte auf besinnungsloses Kopieren hindeuten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1994 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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