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Signers Koffer

Peter Liechti hat zum zweiten Mal mit dem Ostschweizer Künstler Roman Signer zusammengearbeitet. In einem sprunghaften Film fügt er Aufnahmen und Äusserungen zusammen, die im Verlauf von drei Jahren entstanden sind.

Text: Martin Schaub / 01. Okt. 1995

Peter Liechti hat zum zweiten Mal mit dem Ostschweizer Künstler Roman Signer zusammengearbeitet. In einem sprunghaften Film fügt er Aufnahmen und Äusserungen zusammen, die im Verlauf von drei Jahren entstanden sind. Zwanglos verlässt er die Chronologie der Ereignisse; sie taugt nicht als Ordnungsprinzip, weil eine Existenz in Film umzusetzen ist, kein Lebenslauf. Signers Koffer berichtet zwar von verschiedenen Aktionen in verschiedenen Ländern, doch dem Autor geht es um das Bewusstsein des Aktionskünstlers. Liechti macht seinen Film gleichermassen zum Weltinnenraum, in dem sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vermischen. Sorglos schreitet der Film in der Projektionszeit voran, Perspektiven und Aufnahmetechnik variierend. Liechtis Kameras und Mikrophone gehören teils zu Signers Versuchsanordnung, teils wahren sie Distanz. Aber immer «zeigen sie einen Stolz»; sie dienen nicht, sondern begleiten gleich souverän wie freundlich einen philosophischen Künstler. Die Montage der Bilder und Töne verabschiedet sich vom Historikergeschäft, hat nur die Gegenwart des Films im Sinn. Die Unbekümmertheit ist nur eine scheinbare; man spürt, dass man als Zuschauer in jedem Moment gleichermassen Zeuge einer Verzauberung und einer Sinnproduktion sein soll.

Ausserordentlich an Peter Liechtis Dokumentarfilm ist nicht einfach der Stoff, sind nicht Enthüllungen irgendwelcher Art, sondern dass ein Filmer neben einem interessanten Stoff auch die Gewissheit hatte, dass, und Vorstellungen, wie dieser Stoff filmisch erscheinen kann. Liechti begreift Film nicht nur als ein Mittel der Notation, sondern als enonciation. Signers Koffer ist kein Film über das Werk und die Person Roman Signers geworden, sondern Signer und sein Werk (insgesamt fünfzig Aktionen) sind Film geworden. Das ist ein fundamentaler Unterschied, den viele Dokumentaristen nicht kennen. Die meisten wollen oder können nicht fliegen.

Peter Liechti stellt sich nicht in den Dienst seines Gegenstandes, er reibt sich an ihm und schafft ihn souverän neu. Andersherum: Die Aktionen Signers können so nur im Film wahrgenommen und dargestellt werden; ihre Dynamik wird durch die filmische potenziert. Es ist kein Zufall, dass Liechti als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Kameramann signiert; wahrscheinlich wäre bei diesem Projekt seine filmische Alchemie nicht an Mitarbeiter vermittelbar gewesen, und dabei wird auch die «Schwierigkeit« Roman Signers ihre Rolle gespielt haben. Zu vermuten steht, dass Liechti selbst ein «Schwieriger» ist, weil er mittels Osmose funktioniert. (Natürlich ist er auch schlau genug, um zu merken, dass seine eigenbrötlerische Arbeitsweise die kostengünstigste ist.)

Signers Grundskepsis wird ablesbar an den (Video-)Einstellungen, in denen er in die Kamera spricht. Er tut es mehrheitlich im Viertel- oder Achtelprofil. Signer spricht von Gelingen und Misslingen, von der Lust am Experiment und von dem Recht der Natur, dem Vergnügen, wenn sie Recht bekommt und behält. Er sagt aber auch, weshalb er sich nach den Aktionen so rasch abwendet und verschwindet: aus Scham. Aus dem Rhythmus von Off-Erklärung und Beiseitesprechen (wie das auf der Bühne heisst) ergibt sich eine Stimmung von Offenheit und von Dynamik, welche die üblichen, oft mühselig inszenierten, tödlich ausgeleuchteten, talking heads nicht schaffen.

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Signers Koffer ist eigentlich ein Spielfilm oder macht klar, wie ohnmächtig die Genrebezeichnungen sind. Ein Reisefilm, den die Identität der Reisenden – noch einmal: des Künstlers und des Filmers – zusammenhält. Der Musiken, welche die verschiedenen Stationen grundiert, bedürfte es gar nicht, aber der Einfall ist schön, ist Zugabe, welche das Ganze ebenso verkraftet wie viele andere kleine Motive, die zunächst «nichts mit der Sache» zu tun haben und schliesslich das Ganze doch konstituieren.

Ein Loblied auf den alten «Trabi» – «praktisch und bequem, man kann ihn selber reparieren» – mag zuerst nur eben anekdotisch wirken, gehört dann aber immer mehr zum ganzen Feld der Bedeutungen und der Formen. Liechti verfährt so, wie Signer manchmal sprachlich verfährt. «Der Piaggio lebt», sagt er im Off, wenn das italienische Dreirad eingeführt wird; später ist die Rede von den «Landschaftsrillen», durch die das Gefährt wie ein Grammophon-Pickup fährt; es ist einfach ein Pickup. Solche hintergründige Mikrobewegungen im Wortbedeutungsfeld bestimmen auch Routenwahl und Marschgeschwindigkeit des Films. Liechti gelingt die Suggestion der Idee, dass die Stationen der Reise, ja dass die disparate Welt zusammengehalten werden durch die «Mechanik» des Bewusstseins der Reisenden. Andeutungsweise scheint eine Art humoristische Transzendenz durch. Der Humor (nicht die Ironie) empfiehlt sich als Perspektive im doppelten Sinne des Worts.

Zweimal reisst eine Hagelrakete dem Aktionskünstler, dem dynamischen Plastiker die Wollmütze vom Kopf in den Himmel. Signer zieht den Hut. Vor wem? Vor der dynamischen Natur: dem Stromboli, den Geysiren auf Island, vor der alten klassischen Physik, vor der ersten Industriellen Revolution. Seine Reiseziele sind Relikte und Reliktgebiete der mechanischen, heute obsoleten Technologie, von ausgedienten Kurhäusern in der Ostschweiz über eine wasserkraftgetriebene Sägerei und einen Rummelplatz mit Vergnügungen der «guten alten Zeit» bis zu den Verwüstungen von Bitterfeld, zum «Stadion der Chemiearbeiter» und zu ein paar versoffenen Ausgesteuerten, die sich auf dem vergifteten Gelände herumtreiben und über die neue Zeit schimpfen. Die erste industrielle Revolution hat die Erde unbewohnbar gemacht wie den Mond. Als Zuschauer assoziiert man «Apokalypse», bevor der Film, das heisst in diesem Falle Signer selbst, die Vorstellung benennt; blitzschnell assoziiert man die Inschrift einer mechanischen Werkstätte, die man vor einer Viertelstunde gesehen hat, «L’Enfer», oder Signers Bemerkung über das Ende einer Ära, als der Trabant des polnischen Schwiegervaters ins Bild kam, oder die altertümliche Herstellung von Backsteinen und die Sägerei am Bach.

Essayfilme bewegen Sinne und Vernunft in einer vom Film selbst und von dem Potential der Zuschauer bestimmten Welt. Sie vernetzen mit der Hilfe vielfältiger Mittel die selber vorgebrachten Elemente mit den im Zuschauer vorhandenen. Für die Dauer von achtzig Minuten bewegen sich der Film selbst, sein Protagonist und die Zuschauer in der Übergangszone von alter und neuer Technologie. Die eine Begrenzung erscheint gerade zu Beginn: Roman Signer übt eine Aktion auf einem improvisierten Flugsimulator. Die andere Begrenzung markieren der Stromboli und die Geysire von Island. Signers Koffer ist nicht bloss ein in Bewegung gebrachter Katalog der Aktionen des Künstlers, sondern eine Auseinandersetzung mit den Entwicklungen einer, unserer Zivilisation. Wenn Signer nach seinen Experimenten am Kraterrand und, nachdem er im Trab die Aschehänge hinuntergehüpft ist, sagt, er habe von dem Vulkan genug, wenn er vom (Sonnen-)Licht des Ostens spricht, definiert er den Spielraum weiter, bezieht Erdgeschichte und Kosmologie ein. Und wenn er es tut, tut es Liechti selbstverständlich auch.

Darin gleicht Signers Koffer Nicolas Humberts und Werner Penzels Middle of the Moment und Peter Mettlers Picture of Light. Auch Matthias von Gunten scheint für Big Bang etwas Ähnliches vorgeschwebt zu haben; nur hat er dann den Sprung in das völlig offene «System» der Assoziationen, Zitate und Spekulationen doch nicht ganz gewagt, und ist – im bildlichen Sinn, metaphorisch gesprochen – in den Schoss des Newtonschen Systems zurückgekehrt. Liechti, Humbert & Penzel, Mettler aber vertrauen auf die Suggestivität ihrer postmodernen, dekonstruktivistischen Methode. Sie haben von der Chaostheorie gelernt. Good bye, Mr. Newton.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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