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FourbiLe Salamandre wird weitererzählt

Fourbi von Alain Tanner nimmt nicht nur Motive und Figuren von La Salamandre, 25 Jahre später, wieder auf, sondern kommt ganz gelassen in die Nähe der Vitalität der frühen Filme.

Text: Martin Schaub / 01. Apr. 1996

Man kann fast alles verkaufen in Alain Tanners neuem Film, sogar – symbolisch zwar – seine Haut: Du meldest dich (mit Bild) als «Wild» bei einem Veranstalter, der mit der Rambodummheit geschäftet, und du wirst dafür bezahlt, dass dir einer eine Platzpatrone auf den Pelz jagt. Oder: Du verschiebst verrostete Autos über die Grenze und fährst mit dem Zug zurück. Oder du verkaufst deine Fähigkeit, ein paar vernünftige Sätze hintereinander zu setzen. Oder du verkaufst dich gleich ganz: deine Geschichte, dein Selbst, tuttiquanti. Die Fernsehanstalten sind scharf auf Lebensgeschichten. (Über eine Million Fernsehzuschauer:innen haben in diesem Land zugeschaut, wie «Porno-Heidi» ihre Haut doppelt auf den Markt trug.) «Es zählt nur noch die Ökonomie», sagt Tanners neuer Paul, «es gibt nur noch ein ganz klein wenig Kultur und fast keine Natur mehr.» Weil er es aus Erfahrung weiss – er ist schliesslich Verfasser von Büchern mit winzigen Auflagen –, sieht er sich vor. Aber man muss nicht wissen, man kann es auch spüren, falls man noch ein bisschen Natur im Leib hat, wie Rosemonde. Wenn man Natur bewahrt hat, kann man auch lernen. Rosemonde philosophiert, ohne es zu wissen. «Dieser Sartre oder was ist mir zuvorgekommen, genau das denke ich ja auch» sagt sie einmal.

Man müsse die Gegenwart mit den Augen der Zukunft sehen, hat Tanner gesagt, als er noch an eine (bessere) Zukunft glaubte und sie mit seinen Filmen auch gestalten wollte. Jetzt, da nur die Angst vor der Katastrophe die Menschheit zusammenhält, macht er in der Gegenwart bereits die Züge einer verheerenden Zukunft aus. Schon in dieser Vorzukunft kaufen jene, die es können, das Wort. Denn wer das Wort hat, der hat die Macht. Coca Cola zum Beispiel kauft sich in diesem Jahr die Olympischen Spiele.

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Der Fabrikant des Dosenhundefutters «Doggybag» will eine «wahre Geschichte» beim Privatfernsehen kaufen. (Jelmoli und Vögele kaufen sich schon heute das Wetter.) Kapitalgeber haben einen Sendeleiter gekauft, der Sendeleiter hat einen Produzenten gekauft, und dieser hat sich ein Auto gekauft. Jetzt will er Rosemonde und Paul kaufen: sie soll ihm ihre Geschichte erzählen, und er soll sie in Dosen abpacken. Die Vorschüsse sind bezahlt. Wenn die Operation stockt, zieht er – er ist ein Spieler – auch noch Marie ins Spiel; er kauft auch sie. Und wenn nichts mehr geht, bleibt nur noch die Drohung. Mit einem Trick befreien sich die drei. Der Flirt mit dem Geld geht besser aus, als der Flirt Maries mit dem Produzenten Kevin.

Fourbi erzählt die Geschichte eines Sommers voll Verführungen mit einem guten Ende. Rosemonde hat dazugelernt, und sie ist schwanger. Marie ist noch einmal davongekommen, bleibt aber weiterhin arbeitslose Schauspielerin. Paul kann sich seiner eigentlichen Arbeit zuwenden, dem Schreiben erfolgloser Bücher. Pierrot wird einen anderen Job finden. Der Gewinn ist rein innerlich, einerseits natürlich, andererseits kulturell. Fourbi ist eine sommerliche Ballade, die eine Handvoll junge Menschen zusammenführt, die – im gewöhnlichen Leben – kaum in Kontakt kommen: den Schriftsteller Paul, die Serviererin Rosemonde, den Arbeitslosen Pierrot, die Schauspielerin Marie. Gemeinsam finden sie eine Kultur des Widerstands. Eine Klammer hält die Ballade zusammen: zwei Spaziergänge am Ufer der Rhône; beim ersten geht Rosemonde, mit Walkman-Musik im Kopf, allein flussaufwärts; beim zweiten folgen alle vier zusammen dem Flusslauf, der – man weiss es – bis zum Meer geht.

Tanner hätte diese kleine Geschichte verschachtelt und perspektivisch erzählen können, beispielsweise als Rückblick von Paul, vielleicht neun Monate später. Er tut aber etwas ganz Einfaches: inszeniert die Geschichte und schaut ihr mit der Kamera zu; die Montage ist linear, gemächlich. Es ist ein Film mit Hauptsätzen; die Schnitte sagen «und dann, und dann». Manchmal macht sich die Kamera (und damit der Filmemacher) bemerkbar, vor allem mit Travellings und steadycam-Fahrten, mit begleitenden Gesten also, zuweilen mit einem kleinen Bildwitz: wenn die Kamera schon vorher da ankommt, wohin die Bewegung der Figuren zielt. Tanner gestattet sich, im Vertrauen auf die Stimmigkeit der Situationen und der Dialoge, ein gewisses Mass an sommerlicher Trägheit und Einfachheit.

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Die Beizenszene beispielsweise, in der Paul den Freundinnen Marie und Rosemonde, sowie zwei Kolleginnen Maries den Preis des Coca Cola mit dem unausgewiesenen Gewinn erklärt, ist weit weniger aufwendig und kalkuliert inszeniert als die berühmten Tischszenen von Jonas, in denen Renato Bertas Kamera durch den Raum schwebt. In Fourbi lässt es Tanner bei ein paar günstigen Durchblicken und den notwendigen Schnitten bewenden. Sogar in der Handlungserfindung ist er mit sich selber ziemlich grosszügig: Ihn interessiert gar nicht, wie der jüngere Bruder Maries sich als Hacker in die Buchhaltung des Hundefutterproduzenten schleicht; Hauptsache, er ist drin, Hauptsache, der Geldsack lässt seine Forderungen fahren.

Fourbi ist Tanners erstes Alterswerk. La vallée fantôme und L’homme qui a perdu son ombre wiesen einen Mann aus, der sein Alter nicht akzeptierte; Une flamme dans mon cœur und Le journal de Lady M. einen, der sich, in einer absurden Volte, irgendwie blind, einer ihm fremden Problematik annahm. Die Personen von No Man’s Land und Dans la ville blanche waren, obwohl biologisch jünger, noch seine Altersgenossen gewesen. In dem Dokumentarfilm Les hommes du port gelang der Blick zurück, die Darstellung der eigenen Geschichte. Und in Fourbi schaut und hört Tanner gleichzeitig Jüngeren zu, wie er seine eigene Jugend in ihnen spiegelt. Er findet eine neue Frische und eine Aktualität, die er mit der Mitwirkung junger Mitarbeiter absichert. Fourbi zeichnet gleichenteils Offenheit und Erfahrenheit aus, die sich nicht hat desillusionieren lassen. Die Anspannung des Meisterwerkes fehlt. «Je pose ma petite brique», hat Paul in La salamandre gesagt, ich trage mein Scherflein bei. Tanner setzt in Fourbi nicht den meisterlichen Schlussstein, formuliert weder Manifest noch Testament; er schaut zu, erfindet – zusammen mit dem dreissig Jahre jüngeren Drehbuchautor Bernard Comment – einen heute möglichen Dialog und setzt seine Figuren mit einer gewissen bärenhaften Grazie ins Bild.

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Diese Figuren mit ihren Bedingungen und Optionen sind einfach da, aber sie verkörpern auch die alten Ideen unter den neuen Umständen. Vor allem natürlich Rosemonde und Paul: Rosemonde, die junge Frau, die stark, ja patzig auftritt – die Natur –, und Paul, der in dem grossen fourbi (Durcheinander) seinen point de vue sucht. In La salamandre war Paul der Dichter, der Rosemonde intuitiv verstand, mit seiner Fiktion ihrer Geschichte so nahe kam, dass sie ihn in ihr Bett liess, was ihn nicht daran hinderte, ihr ein paar wesentliche freundschaftliche Ratschläge zu geben.

Paul in der Schlussequenz von La salamandre – ich ziehe zusammen: «Ich habe dich erfunden von dem Moment an, da du auf den Onkel geschossen hast. Jetzt stehst du da, vor mir. Das ist komisch … Ich sah dich anders. Du warst fester, mehr ein Mädchen vom Land … Schön. Stark. Schön. Du warst ziemlich komisch. Jemand, der weiss, was er will …». Komisch, würde die Salamandre von 1971 (Bulle Ogier) sagen, die neue Rosemonde ist aber so, wie sie mein Freund Paul erfunden hatte.

Tanner erzählt die Geschichte dieser Rosemonde heute, da die meisten verkaufen und kaufen. Und er erzählt sie so, wie seine jugendlichen Protagonisten sind und leben. Mit einem kleinen, alles andere als hysterischen Film, der dem Lebensstil, beispielsweise der Wohnung von Rosemonde und Pierrot, gleicht. Letztlich ist Fourbi ein Lob der Armut. Vielleicht, so suggeriert er, können Arme (nicht Notleidende, das wäre etwas anderes) besser sie selber sein als Reiche; wer weniger zu verlieren hat, ist umso freier. Er selber jedenfalls macht sein «armes Kino» frohgemut, mit einer Gelassenheit, die rar geworden ist. «Alain ist jung», haben seine jungen Schauspieler:innen, und auch die Techniker gesagt. Ich nehme an, sie haben die gelassene Heiterkeit gemeint, das Fehlen von krankmachendem Ehrgeiz.

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(Letztes Bild: La Salamandre)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1996 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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