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Augenblicke im Paradies

Richard Dindo erweitert die Tagebücher von Breyten Breytenbach – «Augenblicke im Paradies», «Wahre Bekenntnisse eines Albino-Terroristen» und «Rückkehr ins Paradies» um so etwas wie eine Paralleldichtung in der Gestalt eines Films. Es versteht sich ja nicht von allein, dass Literatur von solchem Kaliber, inzwischen weltweit gelesen, eine Umschrift in Bilder und Töne überhaupt erträgt oder benötigt.

Text: Pierre Lachat / 01. Juli 1996

Richard Dindo erweitert die Tagebücher von Breyten Breytenbach – «Augenblicke im Paradies», «Wahre Bekenntnisse eines Albino-Terroristen» und «Rückkehr ins Paradies» um so etwas wie eine Paralleldichtung in der Gestalt eines Films. Es versteht sich ja nicht von allein, dass Literatur von solchem Kaliber, inzwischen weltweit gelesen, eine Umschrift in Bilder und Töne überhaupt erträgt oder benötigt. Je nachdem könnte der Vorlage besser gedient sein, bliebe sie ohne jede Ausweitung. Doch bringt es der Film Augenblicke im Paradies eben zustande, die Texte des südafrikanischen Schriftstellers in einer ungebräuchlichen Tonart zu lesen.

Es geschieht so, als wären die Sätze nicht schon rezitierfertig vorgedruckt, sondern als würden sie just zustandekommen, im Augenblick selbst, um nicht zu sagen: «im Ohrenhör», unter unsern Ohren. Es ist, als wäre der Verfasser im Begriff, sich alles überhaupt erst vorzusagen, was zum Teil schon vor über fünfzehn Jahren erschienen ist. Auf diese Weise wird das Geschriebene weder angewendet noch ausgewertet, sondern wieder- und weitergedacht und wieder- und weitergeschrieben, mit andern Mitteln fortgeführt; und was dabei herauskommt, ist kein Kinostück nach den veröffentlichten Werken, sondern eines zu und mit ihnen.

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Die Erinnerung zum Sprechen bringen

Die Abschnitte von Breytenbachs siebenundfünfzigjährigem Lebenslauf sind ja mehr als nur bereits gelebt. Von der Jugend unter den Buren der Kap-Provinz über den Widerstand gegen die Apartheid – mit dem Pariser Exil und den siebeneinhalb Jahren hinter Gittern – bis zur zögernden Heimkehr in jüngster Zeit ist alles zu Papier gebracht, rekapituliert, verkraftet, vielleicht schon in Teilen vernarbt. Und praktisch alles scheint von daher aussichtslos festgezurrt, endgültig.

Allzu leicht könnte, von da aus, eine Rückschau betrachtend ausfallen, distanziert, vielleicht sogar gelassen und voreilig versöhnlich. War also doch alles halb so schlimm, abschliessend betrachtet. Kaltblütig exekutiert wurden in den Knästen des Regimes die schwarzen Opponenten, nicht die weissen. Und wenigstens eines trifft ja auch zu. Breytenbach macht auf dem heute Gefilmten einen wohl geprüften, aber keineswegs etwa dauerhaft beschädigten Eindruck: ein homerischer Dulder und heimkehrender Irrfahrer, aber auf Ithaka geht er noch ganz sehnig an Land. Illustrativ müsste ein solcher konventioneller Film geraten und wahrscheinlich höchst akademisch.

Wenn Dindo in einer ungebräuchlichen Tonart zitieren lässt, dann bringt er auch die Erinnerung, die eine unserer wichtigsten Produktivkräfte ist, auf ganz andere, auf seine sehr eigene Weise zum Sprechen und zum Hervorbringen. Die Geschichte der Familie Breytenbach, die Freunde, die Hinwendung zur Literatur, die Oppositionsgruppen, die Zeit der Illegalität, der Verrat aus den eigenen Reihen (an die politische Polizei), die bleierne Periode der Unterdrückung, der Prozess, die Aufstände, die Entlassung Nelson Mandelas aus der Haft, dessen Aufstieg zur Führung des Landes – eine ganze exemplarische Lebens- und Leidensgeschichte unserer Epoche schnurrt da nicht wie geplant ab, sondern sie vollzieht sich in kondensierter Form, mit allen krisenhaften Übergängen, noch einmal von vorn. Breytenbach wandelt auf den eigenen Spuren. Das Ungesättigte, leicht Schleppende und Verzeichnende der chemisch kopierten, aber elektronisch gefertigten Bilder verleiht vielen Szenen das Gespenstische des «déjà vu».

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Vom Definitiven zum Provisorischen

Alles scheint wieder, statt über die Bühne gegangen, offen und unwägbar. Die Tatsächlichkeit und Unwiderruflichkeit des Geschehenen – dieses ganze Hinterhergescheitersein, das nachträgliche Wissen, was für eine Wendung die Sache am Ende genommen hat – wird gleichsam noch einmal, als würden Wunden aufgerissen, für die Dauer einer Vorführung, suspendiert. Selbst wenn Breytenbach angesichts der neuesten Entwicklungen sagt: Es kommt zu keiner Revolution in Südafrika, liegt in diesen Worten nichts archivarisch Beiseitelegendes. Immerhin ist die unmittelbare Gegenwart, aus der heraus sich der Film entfaltet, so ungewiss, wie es jeder einzelne Augenblick in der Vergangenheit gewesen ist. Und dem entspricht der durchaus zurückhaltende Optimismus, mit dem der Autor die Entwicklung seit dem Ende der Apartheid im Auge behält.

So findet denn das Definitive zu seinem provisorischen Charakter zurück, und in der Rückschau wird jeder Augenblick wieder zur Vorschau. Die Geschichte vollzieht sich eben doch nicht gesetzmässig oder gar automatisch, wie Marx es lehrte. Oder sieht es nur manchmal so aus, und hätte es der schlampige alte Prophet versäumt, die Zeiträume zu benennen, innert derer es dann doch so kommen würde, wie ihm vorschwebte? So hart auch die Rückschläge, es bleibt stets nur eines, an dem sich Sinn und Wert des Vergangenen und Gegenwärtigen gültig messen lässt, und das ist die utopische Vision einer freieren und gerechteren Welt. Wer sich vom Ideal nicht abbringen lässt, für den gibt es nur immer das Einstweilige, den Neuanfang, das Zurückfluten.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1996 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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