Filmbulletin Print Logo
Flammen im paradies2

Flammen im Paradies

Text: Martin Schlappner / 01. Apr. 1997

Die Geschichte, die Markus Imhoofs Film Flammen im Paradies erzählt, hat selbst eine eigene Geschichte. Im Film wird Georgette, mit ihrem Mann auf der Hochzeitsreise nach Indien, klar, dass dieser sie vor allem wegen der Fabrik ihres Vaters geheiratet hat. Sie tauscht ihr Leben mit einer verängstigten jungen Frau, Esther, die in Indien einen ihr unbekannten Missionar heiraten soll, und geht heimlich an ihrer Stelle von Bord des Dampfers. In der abgelegenen Station gerät mit dem Erscheinen der falschen Braut die bisher scheinbar bewährte Ordnung aus den Fugen. Georgette und Gustav, der Missionar, in ihren Charakteren unterschiedlich, verlieben sich ineinander. Ihre Bindung bestätigt sich vollends, als Philipp, der verlassene Ehemann, mit Esther, der eigentlichen Braut, auf der Mission auftaucht.

Markus Imhoof hat diese Geschichte nicht einfach erfunden. Was er im Film darstellt, hat ihm seine Grossmutter erzählt, die als junge Frau, einer enttäuschten Liebe entfliehend, nach Indien in eine Missions-Station gereist ist und dort einen ihr unbekannten Missionar geheiratet hat. Diese Geschichte aus den Annalen der eigenen Familie bildet den Ausgangspunkt zu Flammen im Paradies. Und dennoch hätte der Film ursprünglich ganz anders aussehen sollen als so, wie er dem Publikum nun zu Gesicht kommt.

Jahre sind schon vergangen, dass Markus Imhoof sich mit einem Drehbuch beschäftigte, das zum einen die Geschichte seines im vorigen Jahrhundert als Missionar in Indien ansässigen Grossvaters Gustav und seiner Heirat mit der fremden Braut, und das zum anderen die Geschichte von Georg Reinhart, einem der Begründer des Handelshauses Volkart in Winterthur und Kaufmann in Indien, zum Thema hatte. «Gustav und Georg» lautete der Titel dieses projektierten Films, den Markus Imhoof und Thomas Hürlimann, nach der fruchtbaren Zusammenarbeit an dem Film Der Berg, wiederum gemeinsam zu entwickeln sich vorgenommen hatten. Gustav, der Vorname des Missionars in Flammen im Paradies, ist geblieben; des anderen Winterthurers Vorname mag dazu angeregt haben, die ihrerseits einer enttäuschten Liebe entfliehende junge Frau nun Georgette zu nennen.

Gustav und Georg, obwohl beide aus Winterthur stammend, sind sich im Leben wahrscheinlich nie begegnet. Das erschien Imhoof auch nicht eben wichtig. Entscheidend dafür, dass er den Missionar und den Kaufmann zusammenführte, war für ihn, dass der eine, der nach Indien gekommen war, um missionierend mit dem Christentum Aufklärung und Zivilisation zu verbreiten, sich der andersartigen Kultur verschloss; der andere aber, dessen Sinn auf den Handel mit Kolonialwaren und anderen exotischen Produkten gerichtet war, liess sich von der Kultur der Inder und vom Buddhismus so sehr gefangen nehmen, dass er in seinem Haus in Winterthur eine Weihestätte einrichtete.

Flammen im paradies1

Vergegenwärtigt man sich den Entwurf zu diesem Drehbuch, mit dem die beiden skizzierten Biographien miteinander verwoben werden sollten, wird mit einem Schlag deutlich, wie weit der Weg ist, den Markus Imhoof, auf die Begleitung durch Thomas Hürlimann zuletzt verzichtend, bis zu Flammen im Paradies gegangen ist. Nicht mehr «Gustav und Georg», wie der Titel für das dokumentarisch-fiktionale Doppelportrait des eigenen Grossvaters und des Grossvaters der jetzigen Generation der Familie Reinhart lautete, hiess nun, als im Jahr 1994 ein erstes fertiges Drehbuch vorlag, das Vorhaben: Flammen im Paradies war endgültig an die Stelle des alten Titels getreten.

Die Figur des Handelsmannes war damals aus der nun erzählten Geschichte verschwunden. Erkennbar wäre er einzig noch in der jetzt ganz fiktiven Figur des Textilfabrikanten Zellweger gewesen, aus dem nun, im vorliegenden Film, Philipp Braun, der Ehemann von Georgette, geworden ist. Georgette allerdings, die dann die Grossmutter von Markus Imhoof tatsächlich wurde, hat jetzt endgültig den Platz in der Mitte eingenommen. Sie ist die junge Frau, die der Obhut des Elternhausesentflieht und sich zur sogenannten Missions-Braut ausbilden lässt, weil sie den ihr von ihrem Vater, dem Fabrikanten Zellweger, zugeführten Bräutigam nicht heiraten will. Sie lässt sich nach Indien verschiffen und heiratet Gustav, der real der Grossvater von Markus Imhoof geworden ist; mit ihm kehrt sie im Alter heim in die Schweiz.

In diesem Drehbuch von 1994, das er in Zusammenarbeit mit dem Briten David Howard aus den indischen Tagebüchern seiner Grosseltern entwickelt hat, setzte Markus Imhoof gegen die kolonialistische Überheblichkeit von Gustav, der das Fremde abwehrt, weil es ihm im Lichte seines Glaubens als die Lüge schlechthin erscheint, die gleicherweise kolonialistische Schuld von dessen (künftiger) Frau, die sich ihrerseits an die Rettung, Befreiung und Umerziehung der «Eingeborenen« macht, sie allerdings aus der Verblendung durch eine voluntaristische Menschenliebe heraus.

Der Weg der beiden zueinander – der Weg des Mannes, der sehnsüchtig einen Engel aus der Heimat erwartet hat, und der Weg der Frau, die zunächst nur aus Trotz gegen den elterlichen Familiensinn zu dem ihr unbekannten Mann fährt – ist ein Weg der Wirren, an dessen Ende konsequent der Zusammenbruch der Illusionen da wie dort steht. Mit dem Zusammenbruch öffnet sich beider Blick, es entsteht Neugier für das Fremde. Gustav und Georgette leben, nachdem die Missions-Station ein Raub der Flammen geworden ist, von nun an, in ihrer Liebe zueinander gefestigt, in der Realität der Kultur, die sie umgibt.

Flammen im paradies3

So privat die Geschichte von Flammen im Paradies in ihrem Ansatz, so vieles an Persönlichem aus den Tagebüchern des Missionarpaars in sie eingeflossen ist, Indien als ihr Schauplatz und ihre verschiedenen Lebensorte wie Mission samt Textilwerkstätten, Dorf und Ziegelei, deren Besitzer die Arbeiter, auch Kinder, als Sklaven hält, Urwaldstrasse und Dschungelpfade, Hafenstadt und auch das Schiff, der Hain mit dem göttlich verehrten Baum – das alles fordert Aufwand, auch wenn dieser, da es ja keineswegs um ein exotisch-romantisiertes Spektakel geht, nicht überquillt. Ein Aufwand jedoch, der produktionell Zusammenarbeit, innerhalb der Schweiz und mit Filmmanufakturen in Frankreich und Deutschland, und – ebenso selbstverständlich für schweizerische Verhältnisse – einen gehörigen Sammelzug zu Finanzierungsquellen nötig machte. Und im Masse dieser Internationalisierung der Produktion traten nach David Howard noch andere Mitarbeiter am Drehbuch, so Judith Kennel und Jacques Akchotti, an.

Innerhalb solcher personeller Ausweitung liess sich Markus Imhoof, ohne freilich seinen Anspruch als der eigentliche Autor seines Filmes zu gelten preiszugeben, zu einer dramaturgischen Krümmung der Geschichte überzeugen, die so linear, wiewohl psychologisch durchaus glaubwürdig, nicht weiter sein wollte, als er sie im grundlegenden Entwurf angelegt hatte. Und die der Geschichte einen unerwarteten Reiz verleiht, statthaft ein Stück weiter weg von der noch immer dokumentarischen Rekonstruktion. Nun nämlich ist Georgette nicht die widerspenstige Tochter mehr, die in der Missions-Schule sich ausbildet und als Braut auf die ferne Missions-Station reist. Nun ist sie die Fabrikantentochter, die ihren Philipp zwar geheiratet, aber spät erst, auf der Hochzeitsfahrt, entdeckt hat, dass ihren Mann vor allem das industrielle Besitztum des Schwiegervaters gelockt hat. Enttäuscht und erbost, tauscht sie mit Esther, der tatsächlichen Missions-Braut, die auf dem nämlichen Schiff, freilich in der dritten Klasse nach Indien unterwegs ist.

Für Esther war die Ausbildung ein Weg aus der sozialen Absonderung, in der Arme eben leben; die Aussicht, die Frau eines Missionars zu werden, machte ihr Hoffnung. Doch nun überwältigt sie die Angst, nun erkennt sie, was der Verlust ihrer Identität sein könnte. Wenn sie gegen Ende der Geschichte noch einmal auftaucht, an der Seite von Philipp, der gebieterisch seine Frau zurückverlangt, stellt sie sich zwar nach wie vor in den Hintergrund. Doch anzunehmen ist, dass sie mit dabei sein wird, wenn Robert, der Werkstättenleiter, und seine Frau Helga, die eigentliche Stationsmutter, die vom wütenden Hinduvolk eingeäscherte Mission wieder aufbauen werden.

Flammen im paradies4

Der Brand wird von den Einheimischen gelegt, angestiftet dazu hat sie Hosiannah, eine Inderin, die als Kindermädchen auf der Mission arbeitet. Zwar ist sie getauft, doch sie sieht immer wieder zu ihren alten, im Heiligen Baum alchimistisch verehrten Göttern zurück. Sie war, nachdem des Missionars erste Frau dem Fieber erlegen war, seine Geliebte; sie, statt nach einer Weissen zu rufen, jedoch zu ehelichen, verhindert ihn die Enge seines Blicks. Die Flammen, die Kirche und Missions-Haus zerstören, brennen endlich auch die Lügen weg, die Vorurteile und die Überheblichkeiten, derer auch Georgette, die zunächst scheinbar so offene junge Frau, durchaus schuldig ist. Jetzt erst finden die beiden wirklich zusammen.

Der Weg in die Freiheit, der sich so am Ende auftut, ist verzweigt. Für Georgette und Gustav bedeutet die Freiheit den Aufbruch zu neuen Ufern, abgesichert in ihrer gegenseitigen Bindung, die zum Ereignis der tatsächlichen gegenseitigen Wahrnehmung erst jetzt wird. Und so, wie die beiden einander entdecken, öffnen sich ihre Augen auch für das Andere, das für sie bisher Fremde, das um sie ist. Öffnen sie sich so, dass beide von nun an darauf verzichten, zuvor vom Anderen, von den Anderen, eine Gegenleistung (etwa den Übertritt zum Christentum) einzufordern. Dieser Weg in die Freiheit, der Ausbruch immer sein soll aus einer Welt der Regelungen und der Zwänge, wie immer diese gesellschaftlich oder ideologisch begründet sind,ist in allen Filmen von Markus Imhoof das Thema gewesen, wie immer dieses Thema stofflich beschaffen sein mag: der Ausbruch aus der Strafanstalt in Fluchtgefahr (1974), aus der Ehe in Tauwetter (1977), aus der Lebensbedrohung durch ein tödliches Regime in Das Boot ist voll (1980), aus der Dominanz des Vaters in Die Reise (1986) und aus dem Bann des eigenen Dämons in Der Berg (1990).

Darf man meinen, dass jetzt, in Flammen im Paradies, was das Persönliche betrifft, der Schritt in die Freiheit gelungen ist? Jeder der früheren Filme, wie beschaffen ihre Stoffe immer waren, ob gesellschaftskritisch oder – wie in Das Boot ist voll – historisch aktenkundig, schloss in der Bestätigung einer stets zwar subjektiv ausgetragenen, immer aber auch auf die Gesellschaft übertragenen Klaustrophobie ab.

So besehen ist auch Flammen im Paradies, mag es denn auch ein Publikum (und eine Kritik) geben, die die Geschichte dieses Films auf eine allgemeine Art für bloss kinogängig halten, der ganz persönliche Film von Markus Imhoof, ein Autorenfilm, Beispiel eines in die Welt des Exotischen projizierenden Kinos. Dem indessen, nicht zuletzt dank der jeder Opulenz sich versagenden Kamera von Lukas Strebel, dank einer Kamera, die auch auf Distanz hält, wo andere schwelgerisch die Betörung durch Landschaft und Fremdheit einsaugen würden, keinerlei Exotik eigen ist; auch in der Charakterisierung und Darstellung der – schauspielerisch präzise gewählten und geführten – Figuren nicht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1997 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

17. Nov. 2021

Les Nouvelles Èves

Der zweite grosse nationale Frauenstreik ist zweieinhalb Jahre her, doch mit dem Dokumentarfilm Les Nouvelles Èves wird ihm nun ein gebührendes filmisches Denkmal gesetzt.

Kino

18. Mai 2011

Les émotifs anonymes

«Gleich und gleich gesellt sich gern», sagt der Volksmund. Tatsächlich möchte man meinen, dass, wo verwandte Seelen aufeinandertreffen, auch die Herzen locker zueinanderfinden. Das mag in 99,9 Prozent aller Fälle so sein. Nicht jedoch in Les émotifs anonymes von Jean-Pierre Améris.