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Hoehenfeuer

Höhenfeuer

Der erste Satz in Höhenfeuer, einem Film, wo wenig gesprochen wird und das einzelne Wort dadurch noch mehr Gewicht erhält, wird vom Vater ausgesprochen. Er sagt am Morgen beim Aufstehen: «I glaube hit isch Gillewatter», was soviel heisst wie regnerisch. Noch ist es nicht das grosse Gewitter, das einen Baum entwurzeln kann, aber die Wolken ziehen sich am Berg zusammen.

Text: Walter Ruggle / 01. Okt. 1998

Auf einem abgeschieden und steil gelegenen kleinen Hof leben seit Generationen die Jähzornigers. Nachbarn der Hinterbergler, mit denen sie notfalls mit Handzeichen auf Sichtweite Verbindung aufnehmen können. Die Mutter ist auf der gegenuberliegenden Talseite aufgewachsen, und es hat lange gedauert, bis sie den Sohn der Jahzornigers geheiratet hat. lnzwischen haben die beiden zwei Kinder, Belli, die Tochter, die vorüberqehend zur Ausbildung als Lehrerin im Unterland gewesen ist, und Franz, der Sohn, den alle «Bub» nennen. Er existiert sprachlich nur in der dritten Person; taub geboren findet die Kommunikation mit ihm anders statt.

Ursprünglich war die ganze Geschichte einmal als grosse Rückblende gedacht. Ich wollte mit der Belli anfangen, die einen 15jährigen Sohn hat und in der Stadt lebt, auf der Bank an einem Schalter arbeitet und ihrem Sohn am 15. Geburtstag einen Brief überreicht. In dem Couvert steckt die Gesehiehte, die sie in ihren fünf oder sechs Monaten Gefängnisaufenthalt geschrieben hat. Das habe ich aber relativ schnell aufgegeben, diesen Versuch, einen Bogen zu schlagen zwischen Gegenwart in der Stadt und irgendeiner Vergangenheit. Ich fand es bald falsch, den Film in eine entrückte Zeit zu versetzen. Ich wollte ihn in der Gegenwart erzählen auf einer Gegenwartsbühne.*

Höhenfeuer spielt heute, aber der Film kennt ausser den Jahreszeiten keine Zeit. Fredi Murer hat einen Stoff genommen – die Geschwisterliebe – und dazu eine Geschichte erdacht.

Es geht nicht um einen realistischen Raum, den man auf der Landkarte zeigen könnte. Diese Geschichte kann zwischen Island und Japan stattfinden, überall dort, wo es eine Balance zwischen Natur und Kultur gibt, wo es soviele Steine gibt wie Häuser. Ich wollte das Ur-Thema, die Liebe, die Geschwisterliebe, nicht abrücken in die Vergangenheit, sondern ganz bewusst ins Jahr 1984, in jenes Jahr, in dem ich den Film gedreht habe. Nicht um die Geschichte zu aktualisieren, in dem Sinne, dass ich von einem heute besonders dringendem Problem rede. Ich habe meine Geschichte ganz bewusst in einem historisch-geographischen Niemandsland angesiedelt.

Dieses Loslosen aus dem Raum erhalt seine Kraft aber erst dadurch, dass Murers Film andersherum wieder sehr klare Wurzeln hat, ein Baum ist, dessen Krone fest im Wind steht. In Höhenfeuer ist die Beziehungsgeschichte einer Familiengemeinschaft komponiert in vielen Facetten. Da ist die strenggläubige Mutter, die ihren Halt und Trost in den Gebeten findet, deren moralisches Gewissen dadurch auch bereits in Aufruhr gebracht ist, wenn der Bub sich nackt den Jauche-Dreck vom Leib badet. Die Taubheit ihres Sohnes ist für sie wohl eine göttliche Prüfung. Der Vater solidarisiert sich immer wieder auf die eine oder andere Art mit den Kindern, vor allem mit Belli, und lehnt sich damit nicht zuletzt unausgesprochen gegen seine Frau auf. Er traut weder den irdischen (ärztlichen) noch den Überirdischen (göttlichen) Machten ganz. Und er staut sehr viel in sich auf, an guten wie an bösen Gefühlen. Es kommt der Moment, da er sich seinem Buben, einer Wut reuig liebevoll nähert, ihn in Schutz, unter seinen Schirm nimmt, und es kommt auch der Augenblick, da er sich und der Situation nicht mehr gewachsen ist, gewalttätig wird.

Leben über die Gefühle

Neben dem Eltern- lebt das Kinderpaar. Belli ist die wichtige Bezugsperson für den Buben. Von und mit ihr lernt er. Gemeinsam machen sie von Kindsbeinen auf Erfahrungen, deren letzte und äusserste jene der körperlichen Liebe ist. Da der Bub nicht reden kann, braucht er jemanden wie Belli, der für ihn spricht, der seine Wunsche, seine Bedürfnisse, seine Ängste auch spürt und gegenüber Vater und Mutter äussert. Diese sind es nicht gewohnt, ein gefühlsbetontes Leben zu führen, wie der taubstumme Bub dies verstärkt noch verlangt. Murer spricht nicht aus; alles ergibt sich aus den fein und sorgfältig gezeichneten Konturen seiner Figuren. Das gilt auch fur das Umfeld, in dem sich die vier Personen bewegen. Also: ein verhaltener Realismus, bei dem das Charakteristische im Handeln übers Erkennen und Ergänzen sich vermittelt.

Ich will meine Personen in ihrem Kreis, auf ihrer Bühne möglichst wenig stören. Nicht sie haben sich abgekapselt; ich habe ihnen das eingebrockt, weil ich wollte, dass das Dorf (das man nicht sieht) irgendein Dorf bleibt. Das Dorf muss jenes Dorf bleiben, das der Zuschauer selber in seinem Kopf in seiner Erinnerung hat. Ich versuche etwas, was die erzählende Literatur immer wieder spielend schafft: nämlich durch Weglassen einen Raum für die lmagination, die Kreativität des Zuschauers zu schaffen. Der Film hat ja durch seine fotografische Technik immer diesen hohen Wirklichkeitsgrad: er zeigt zum Beispiel wirkliches Gras. Der Zuschauer kann sagen: diesen Berg da kenne ich, der ist dort und dort. Ich habe diesen schonen Berg Bristen, ein Wahrzeichen des Kantons Uri wie der Fujiama fur Japan, nie ganz gezeigt; ich habe alles geographisch Definierte ausgeklammert. Das Haus musste irgendein Haus sein. Das ist meine Art von Abstraktion, und ich mache sie, damit jede Ubertragung auf andere Verhältnisse und in andere «innere Landschaften » möglich ist.

Der erste Satz in Höhenfeuer, einem Film, wo wenig gesprochen wird und das einzelne Wort dadurch noch mehr Gewicht erhält, wird vom Vater ausgesprochen. Er sagt am Morgen beim Aufstehen: «I glaube hit isch Gillewatter», was soviel heisst wie regnerisch. Noch ist es nicht das grosse Gewitter, das einen Baum entwurzeln kann, aber die Wolken ziehen sich am Berg zusammen. «Gillewatter» bleibt es, und eine kleine Spannung um den Buben bringt die andern zum erstenmal miteinander ins Gespräch oder besser: zu Äusserungen, die als solche im Raum bleiben. Es ist dies die Wiedergabe einer von unzähligen genauen Beobachtungen, die Murer in seinen Film einfliessen lässt. In den Zwischentönen der fiktiven Schilderung kommt der ethnographische Dokumentarist Murer wieder zum Vorschein. Die enge Welt, die er betrachtet, hat sich traditionell einer Moral der Verdrängung unterworfen, in der das Reden fast schon eine Sünde darstellt. Belli ist es, die sich immer wieder verhalten dagegen auflehnt.

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Der Heimatfilm

Es ist klar, weshalb der Begriff des « Heimatfilms» eher als Schimpfwort denn als Auszeichnung verstanden wird. Zu stark bringt man ihn mit Werken in Verbindung, die diese Charakterisierung genaugenommen gar nicht verdienen. Murer hat recht, wenn er sagt, dass Grauzone genauso ein «Heimatfilm» sei wie Höhenfeuer, aber er vermischt dabei auch zwei Ebenen von «Heimat»: jene des tatsächlichen Lebens-Umfelds und die andere, die losqeloste, die mystische. War Grauzone ein Ausdruck der Angst, so ist sein neuer Film ein Huckqriff auf tiefere Wurzeln, erzahlt er eine Geschichte, die unsere «Heimat» auf einer abstrakt gewordenen Ebene fasst. Und er weiss sehr genau, worauf es ankommt, wenn er den negativen Aspekt des Heimatfilms umgehen will.

Natürlich habe ich Angst vor einem Heimatfilm-Touch. Es bedürfte aller möglichen Stilisierungen und Abstraktionen. Es gibt da wohl Kühe, man sieht aber nie, wie sie gemolken werden. Die ganze bäuerliche Arbeit fehlt, das heisst: sie findet sozusagen im Off statt, wie sehr viel anderes auch.

Der alte « Heimatfilm » ist genau deshalb unglaubwürdig geworden, weil er in seiner inszenierten Beschönigung das Wesen seiner Figuren, den Charakter seiner Landschaften, den Ursprung von Gefühlen ausser Acht liess. Murers Film ist das Gegenteil davon: er spürt genau die Zwischentöne dieser ursprünglichen Heimat auf, und eine kleine Schwachstelle, die der Film hat, ist denn auch dort, wo er die Einheit seines Ortes (das Gelände der Jähzorniqers, Haus und Alp) verlasst. An Pfingsten begeben sich die beiden Kinder auf die Reise zu den Grosseltern auf die andere Talseite, und damit erhalt der Film eine Zäsur und einen Bruch in der Erzählweise. Sind es vorher und danach die Bilder mit ihren inneren Abläufen und Montagen, die die Schilderung vollziehen, so wird jetzt plötzlich mit der Sprache sehr viel nachgeholt. In der veränderten Umgebung, die in den gleichen Gegebenheiten lebt, wie die gewohnte, gibt es wohl viel zu berichten, aber da sind auch eine Reihe von lnformationen eingeflochten, die andersweitig schwer unterzubringen waren. Es ist der Punkt, wo die Dichte vorüberqehend schwindet, szenisch aufgefangen dennoch durch den Grossvater, der mit Hilfe einer Lupe den Buben aus seiner Abkapselung lockt.

lch wollte mich konzentrieren auf diese Familie, in der jeder seine Individualität entwickeln wil1, und jeder an die Grenzen des anderen stösst und seine Abhängigkeit erfährt, eine gegenseitige schicksalshafte Abhängigkeit. Es ist eine Art Affensippe, die der Naturbasis entlang lebt. lch konnte mir die Geschichte auch in der Stadt vorstellen, aber die Konstruktion eines glaubwürdigen Umfeldes wäre äusserst kompliziert. Ich müsste zum Beispiel mit einer Ausländerfamilie operieren, die aus sprachlichen Gründen in die lsolation gerät. Hier sind es ganz einfache, geographische, ökonomische Gründe. Andersherum ist der Film nur dann gelungen, wenn auch der Mensch in der obersten Wohnung des städtischen Hochhauses spürt, dass diese Geschichte auch mit ihm zu schaffen hat.

Dreh hoehenfeuer

(Bild: Fredi M. Murer und Pio Corradi beim Dreh zu Höhenfeuer)

Kein schlechtes Gewissen

Der Bub lebt in einer gesteigerten lsolation; seine Kommunikation spielt sich zum grössten Teil non-verbal ab, obwohl er zusammen mit seiner Schwester die schriftliche Sprache erlernt. Verstehen zeitigt bei ihm immer einen Solidarisierungsakt, Unverständnis treibt ihn in die Verzweiflung, in die Abschottung auch. Wo Äusserungen nicht daraut angelegt sind, verstanden zu werden, kann eine Kommunikation nicht stattfinden. Das wird durch den fehlenden Sinn des Jungen lediglich verstärkt zum Ausdruck gebracht. Fredi Murer zeigt mit seiner Geschichte nicht zuletzt, dass Äusserungen auf sehr verschiedenen Ebenen gemacht werden und Worte oft die harmloseste Variante darstellen.

Der taubstumme «Bub» erlebt die Welt einfach sinnlicher. Wir machen ja immer diesen Unterschied zwischen «menschlich» und «tierisch» oder «animalisch»: lch nehme an, dass Kinder im Alter von drei bis vier Jahren, die noch in ihrem magisch-animistischen Weltbild leben, die mit dem Teddybär sprechen oder mit der Katze und dem Hund, diesen Unterschied nicht machen. lch selber habe das Kindsein, das Kindsein in mir, nie aufgegeben. Filmemachen hat für mich noch immer etwas mit diesem Weltbild zu schaffen, zum Beispiel mit den Sandspielen. Da organisierst Du etwas auf einer rechteckigen Leinwand, und wenn Du den Stecker rausziehst, ist nichts mehr da.

Für mich hat der «Bub» eine ganz wichtige, ganz wesentliche Bedeutung. Der Vater sagt es einmal, nachdem der Bub den Radioapparat der Schwester zerstört hat und sich wieder schmeichelnd zwischen die beiden Frauen drängt und sich Belli zurückerobert: «Ich glaube, der Bub wird seiner Lebtage nie ein schlechtes Gewissen haben.»

Wie wird eigentlich Moral, das schlechte Gewissen und alles, was uns so belastet, die Erziehung und alles, was wir später Kultur nennen, wie wird das eigentlich vermittelt? Über die Sprache. Kommen alle Ängste über die Sprache in uns hinein? Der Bub hat für mich eine ganz grosse Chance: er muss den ganzen Sprachballast nicht mit sich herumtragen.

Als der Bub von seinem Exil auf der Alp zurückkehrt, begrüsst er zuerst die Schweine; zu ihnen hat er ein ungebrochenes Verhältnis, sie scheinen keine Kommunikationsformen zu pflegen, die er nicht versteht. Belli und er sind sich inzwischen sehr nahe gekommen, so nahe, dass sie sich am darauffolgenden Morgen mit Schamgefühlen wieder bekleidet haben. Murer hat ihre Beziehung so weit und so sorgsam entwickelt, dass man die letzte Konsequenz (oder ist es die zweitletzte) versteht, dass die Handlung der beiden auch in uns Erinnerungen wachzurufen vermag. Aber, die Verdrängung sitzt tief, ich ertappe mich dabei, wie ich mir mit jenem gedanklichen Sprung helfe, den ich von Murer später lese – «incest-barrier» nennt die Psychologie das Phänomen, beim Auttreten von lnzest-Phantasien mit Schuldgefühlen zu reagieren und damit Zuruckhaltung zu üben:

Nehmen wir einmal an, der Bub wäre ein adoptiertes Kind und das, was ich erzähle, eine ganz gewöhnliche Liebesgeschichte, allenfalls mit einem Romeo-und-Julia-Einschlag. Mich wundert es selber, dass die Tatsache, dass es sich um Geschwister handelt, der Geschichte eine ganz andere Substanz gibt. Das passiert irgendwo in unserem Kopf. Äusserlich würde die ganz gleiche Geschichte ablaufen mit einem Adoptiv-Sohn und der Tochter. Es muss etwas in uns drin sein: der lnzest ist eines der ältesten Tabus, das nirgends gebrochen wird. lrgendwie darf man die Folgen der Geschichte, die ich erzähle - sie wird ja Folgen haben, sobald der Frühling kommt - nicht in einen schematisch-christlichen Moral-Sumpf hinunterziehen. Und ich hoffe, dass die Art, in der ich die Geschichte erzähle, dies verunmöglicht. Man soll sich also nicht vorstellen, nun werden die bestraft, mit Zuchthaus und Erziehungsheim. Ich stelle mir lieber vor, dass wenn die Gemeindebehörden kommen, der Bub flüchtet und sich zuoberst auf den Berg hinstellt und sich vom Blitz erschlagen lässt. lrgendetwas Radikales. Auf keinen Fall eine traurige Erziehungsheim-Geschichte, Adoptivkind-Geschichte. Fiir mich ist der lnzest nicht ein Thema, sondern ein Aspekt meiner Geschichte. Wenn sie vorbei ist, muss der Zuschauer sie in seinem lnnern verarbeiten. Stellt man sie sich als eine alltägliche realistische Geschichte vor, dann wird sie bodenlos traurig, trostlos und aussichtslos. Die Geschichte interessiert mich nicht als soziales Drama - man weiss, wie eine solche Geschichte in den herrschenden Verhältnissen ablaufen wiirde. Mich interessieren nur die Gefühle und die Realität meiner Personen.

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Steigerung des Sichtbaren

Aus diesem Interesse heraus wächst Fredi Murers Erzahlweise, die sehr ausgeprägt mit dem Bild und der Steigerung der optischen Wahrnehmungen arbeitet. Mehrmals tauchen im Film Hilfsmittel auf, die Murer gezielt einsetzt. Die bereits erwähnte Lupe des Grossvaters ist eines. Der Bub hat keine Sprache, aber er hat einen ausdrucksstarken Gesichtssinn (Thomas Nock, sein Darsteller bietet aut der Ebene der mimischen und gestischen Kommunikation umwerfende Momente; seine Rolle ist mit Abstand die anspruchsvollste). Wenn er die Lupe bekommt, so beginnt er mit ihr sogleich eine Entdeckungsreise ins Land der Vergrösserungen. Er liest in der Geschichte von Grossvaters Gesicht, und Murer lässt den Zuschauer an der Erfahrung teilhaben, am scharfen Blick zum Beispiel, der über dem vergrösserten Mund sticht und der gleichzeitig gemachten Bemerkung – die Mutter müsse mehr schaffen und weniger beten – das Gewicht lakonischer Erkenntnis verstärkt sich. Oder das zum Fernrohr erwählte Rohr, der Feldstecher auch, die Distanzen scheinbar kürzer machen und letztlich doch nur verdeutlichen, wie weit entfernt die nächsten Abgeschiedenen doch wohnen – diese Talseite-zu-Talseite-Beobachtung ist im übrigen sehr direkt dem Alltag entnommen. Es sind weitere optische Variationen eingesetzt, wie die Balkenritze, durch die der Bub späht als er nach Hause zurückkehrt, mit deren Hilfe Murer und sein hervorragender Kameramann Pio Corradi für einen Augen-Blick das Breitleinwand-Format simulieren, das Hervorlugen aus dem Boden über dem Ofen in Schwesters Zimmer und vom Ofen herab, hinein in die Stube.

Der Spiegel und die eigene Wahrnehmung

Es sind schliesslich die Spiegel, die fur die Geschichte selbst wie fur die Funktion dieses Kinos schlechthin stehen, mit denen der Bub den Sonnenstrahl bricht, mit denen er seine Umgebung abbildet, sich eine kleine Leinwand schafft, dessen letzte Variante er am Ende entführt: den goldumrahmten Spiegel Bellis. Der wird für den Buben zu einem jener Objekte, die ihm die Schwester wegnehmen. Vor ihm verbringt sie mit dem eigenen Korper beschäftigt auch ihre Zeit. Als Belli dem verschwundenen Spiegel nachgeht, erreicht Murers filmischer Ausdruck einen absoluten Höhepunkt. konzentriert er in einer wunderbaren Einstellung seinen Stoff. Belli findet ihren Spiegel auf dem Heuboden. Sie sieht sich darin und nähert sich ihrem Spiegelbild, während langsam dahinter der Bub auftaucht. Wenn nun seine Hand im Spiegelbild der Schwester übers Gesicht streicht, so sieht dies für den Zuschauer aus der fixen, distanzierten Position heraus so aus, als ob Belli sich selber zärtlich berührte. Und wenn die beiden sich zum Schluss dieser Schlüssel-Einstellung fest in den Armen liegen, so steckt noch immer der grosse Wandspiegel zwischen ihren Körpern und es ergibt sich ein Bild der Selbst-Umarmung. Belli und der Bub sind eins. Worte braucht einer, der in Bildern derart packend und präzis erzählen kann, kaum.

Als Filmemacher habe ich vielleicht zwei Seelen oder doch zwei Seiten: auf der einen Seite der Experimentator –am extremsten in Vision of a Blind Man – immer auf der Suche nach neuen filmischen Formen, immer darauf aus, eine filmische Wirklichkeit zu erschaffen, die in der wirklichen Wirklichkeit nicht abgelesen werden kann. Auf der anderen Seite der Geschichtenerzähler. Der eine Film schwenkt etwas mehr auf die eine, der andere etwas mehr auf die andere Seite. lch versuche ja immer eine Synthese der beiden Tendenzen zu finden. Nach Grauzone, der eher auf die experimentierende Seite tendierte, habe ich Lust verspürt, Geschichten zu erzählen. Ich habe viele Geschichten geschrieben. Höhenfeuer war eine solche Geschichte, eine literarische Vorlage fast, und ich suchte nach einer filmischen Form, die sich der Geschichte unterordnet. Ich wollte in die Richtung «Kino» nicht «Film» – wenn man einmal so pauschal kategorisieren will – arbeiten. Ich habe beschlossen, mit Schauspielern zu arbeiten, die ldentifikationsmöglichkeiten anbieten; ich habe Gesichter gesucht, die man gerne anschaut. Ich wollte auf keinen Fall Gesichter, die der Zuschauer sofort als Bauerngesichter kategorisieren konnte.

Höhenfeuer ist nicht nur ein Film, der einen stark spürbaren Ursprung, eine «Heimat» eben, hat, es ist auch ein Werk, das in enger Zusammenarbeit eines kleinen und ausgezeichneten Teams entstanden ist. Die Bilder Pio Corradis, seine sanfte, kaum spürbare Kameraführung, verdichten dieses kleine Welttheater. Da finden sich Einstellungen, die über zwei Minuten dauern, in denen sich die Kamera zurückgenommen hat, damit die Konzentration auf den Ablaufen im Bild ruhen kann. Gleichzeitig vollzieht sie geradezu unmerklich die gewagtesten Bewegungen, wie jene, da sich die Familie auf den Weg zur Kirche macht. Das beginnt nah mit dem Buben in der Stube und endet draussen vor dem Haus mit einem Schwenk talwärts, den abmarschierenden Kindern und der Mutter folgend.

Das Bild hat eine Mehrfachfunktion: Murer braucht es objektiv, in dem er mit ihm die Erzählung gestaltet, und subjektiv, indem er den Zuschauer an Erfahrungsmomenten des Buben teilhaben lasst. Die beiden Varianten spielen auch ineinander hinein, wenn die Kamera etwa ganz im Sinne Kurosawas durch ihre Bewegung die entsprechende Wechselwirkung schafft. Dem Bild gesellen sich eine Musik und ein Ton bei, die die Abgeschnittenheit des Buben vermitteln (Musik Mario Berettas) oder aber dramaturgisch eingesetzt ankundigende Funktionen übernehmen (Ton Florian Eidenbenz). Bild und Ton/Musik ergänzen sich zum Gesamteindruck, verdeutlichen immer wieder die lsolation, in der der taubstumme Junge sich befindet.

Was mir an vielen Spielfilmen, vor allem auch an amerikanischen, gefällt, das ist die Tatsache, dass die Macher keine Angst vor Brecht haben, dass sie Filme machen, die ldentifikation zulassen. Es war bei mir ein langer Prozess bis zum Entschluss, einen Film zu machen, der über ldentifikation läuft, wo sich die filmischen Formen, wo sich vor allem die Kamera dieser ldentifikation nicht in den Weg stellen. Was die Bilddramaturgie anbelangt, folge ich einer bewährten Kinotradition. Die Tonarbeit hingegen orientiert sich weniger an der Tradition. Wir versuchten, den Originalton in jeder Sekunde des Filmes zu überbieten, zu einer Art Hyperrealismus zu kommen. Die lsolation der Familie und ihres Dramas soll sich mehr über die Töne in das Empfinden des Zuschauers schleichen als über die visuellen Zeichen, wir versuchten, die innere Spannung der Personen mit den Tönen – auch mit der Musik, die sozusagen für den Bub geschrieben ist – zu orchestrieren.

Die Lehre der Japaner

In meinem Exposé, das ich der Schweizer Bundes-Filmförderung eingereicht habe, habe ich geschrieben: Wenn ich entfernte Verwandte des künftigen Films nennen müsste, so wären es Die nackte Insel, Die Frau in den Dünen und auch der finnische Film Die Erde ist ein sündig Lied. Das Animalische dieser Leute hat mich sehr berührt, und ich habe mir den «Bub» meines Filmes einmal auch viel grober vorgestellt.

Was mich an den japanischen Filmen fasziniert hat, war die Radikalität. (Und übrigens kommt meine «Jähzorniger-Geschichte» ursprünglich aus der «Legende von Narayama», nicht aus der Verfilmung, die ich nicht so gut finde, sondern aus dem Buch.) Bevor ich Wir Bergler in den Bergen gemacht habe, hatte mich bereits ein japanischer Episodenfilm, Die Schneefrau, stark beeindruckt, und den Bergler-Film wollte ich ja zuerst ähnlich aufziehen, als Episodenfilm mit alten Urner Sagen. Die Japanerfilme geistern immer in meinem Hinterkopf herum. Ich fühle mich ihnen irgendwie verwandt.

Höhenfeuer ist eine in sich geschlossene und abgerundete Liebesgeschichte. Die Tatsache, dass es eine inzestuöse Liebe ist, macht sie archaisch wie die Umgebung, aus der heraus sie sich entwickelt. Wenn Adam und Eva am Anfang standen, so muss die nächste, muss jede folgende Generation genaugenommen sich inzestuös verhalten haben. Also begeben sich Belli und der Bub zurück zu jenen Anfängen, von denen die Bibel ihrer Mutter zu berichten weiss. Oder war das mit dem Anfang doch nicht ganz so einfach, was die Moral erst recht ins Zwielicht rückt? Wie dem auch sei: Murer hat gezeigt, dass es auch bei uns immer noch Geschichten zu erzählen gibt, aufregende zudem und faszinierend gestaltete. Geschichten auch, die mit uns zu tun haben und uns berühren.

* Die kursiven Passagen mit Zitaten von Fredi Murer sind Fragmente eines längeren Gespräches, das Martin Schaub mit dem Zürcher Filmemacher führte.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1985 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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