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Id was wie wann wohin gehort wageh george

ID Swiss

Die Schweiz, das war schon immer so, erzählt am liebsten von sich selbst. Das nicht aus purer Eigenliebe, Gott bewahre. Die Rede von sich selbst dient hierzulande der allmählichen Verfertigung einer so genannten «Schweizer Identität». Und so zogen und ziehen die Bichsels, die Muschgs, die Murers mit ihren Schriften von des Schweizers Schweiz über Berg und Tal.

Text: Thorsten Stecher / 01. Okt. 1999

Die Schweiz, das war schon immer so, erzählt am liebsten von sich selbst. Das nicht aus purer Eigenliebe, Gott bewahre. Die Rede von sich selbst dient hierzulande der allmählichen Verfertigung einer so genannten «Schweizer Identität». Und so zogen und ziehen die Bichsels, die Muschgs, die Murers mit ihren Schriften von des Schweizers Schweiz über Berg und Tal. Dem Volke selbst hat es bisher wenig gebracht. Auch siebenhundert Jahre nach der Staatsgründung nagt ein kleines Monster mit Namen «Was bin ich?» an der Schweizer Seele. So war man am diesjährigen Filmfestival von Locarno nicht umsonst auf die Premiere eines Werkes gespannt, das versprach, einen neuen Finger auf die alte Wunde zu legen. ID Swiss heisst der vom Schweizer Fernsehen in Auftrag gegebene Dokumentarfilm zur Lage der Schweiz. Sieben junge Menschen suchen in sieben Episoden nach ihrer Identität. Dass eine solche Bestellung vom Leutschenbach kam, kann niemand erstaunen. Hier sitzen die Kollegen der Bichsels, der Muschgs, der Murers. Wo die Alten nach wie vor leiden, müssen die Jungen endlich filmen.

Die ID Swiss-Autoren in der Reihe ihres Auftretens: Kamal Musale, Wageh George, Christian Davi, Fulvio Bernasconi, Nadia Fares, Stina Werenfels und Thomas Thümena. Die verwendeten Sprachen: Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Schweizerdeutsch. Das klingt nicht nur babylonisch, sondern ist es auch. Das erstaunt und hat durchaus System. Die für ID Swiss verantwortliche Zürcher Produktionsfirma Dschoint Ventschr hat die Frage nach der jungen Schweiz ganz einfach parallel geschaltet mit der ebenso relevanten Problematik der Multikulturalität in unserem Land. Der angelegte Kunstgriff entpuppt sich als ebenso legitim wie fruchtbar und zeugt von feiner Ironie.

Id making of a jew stina werenfels

Alle sind für Italien

Was wann wie wohin gehört? hat der Ägypter Wageh George seinen Beitrag zu ID Swiss überschrieben. Auf die abstruse und dennoch typische Wortfolge stiess George in einem Telefonbuch der Swisscom. In fünfhundertvierundsechzig Tagen hat er das Recht, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen. Nun stellt er sich die Frage: Wie sollte ein Ägypter sein, um Schweizer werden zu können, und was wiederum zeichnet einen Schweizer aus? Der Regisseur reist nach Kairo und zurück. Er befragt seine Familie, bittet seinen Zürcher Hausmeister um Rat und stösst hier wie da auf ein munteres Repertoire von Vorurteilen, die die ganze Angelegenheit in Bausch und Bogen ad absurdum führen.

Es ist das gekonnte, nicht allzu flache und dennoch erkennbare Spiel mit dem Klischee, das Was wann wie wohin gehört? so amüsant macht. Der autobiographische Zugang verleiht der Sache den Charme eines Dia-Abends bei einem netten Nachbarn.

Der von Italienern stammende Tessiner Fulvio Bernasconi durchläuft die Untiefen seiner Existenz anhand eines Fussballspieles Italien-Schweiz. Bei Bernasconi läuft leichte Unterhaltung über urkomische Abgründe. Der Autor wird auf seiner Reise nach Udine, dem Austragungsort des Spieles, vom Vater des Schweizer Nationalspielers David Sesa begleitet. Auf der Autobahn durchqueren sie die Po-Ebene, und plötzlich fragt der junge Regisseur den gebürtigen Italiener eindeutig hinterrücks: warum dieser denn, obwohl er schon so lange in der Schweiz wohne, eigentlich nie Schweizer geworden sei. Dem minutenlangen Schweigen, dem verzweifelten Ringen von Sesas Gesichtsmuskulatur mit einer plausiblen Antwort (welchem Bernasconis geduldige Kamera keine Gnade gibt) ist nichts hinzuzufügen. Die Pointe von Bernasconis Recherche lautet: «Alle sind für Italien. Nur ich soll für die Schweiz sein.»

Obwohl ID Swiss auch in die Kinos kommt, ist er offensichtlich fürs Fernsehen gemacht. Nach seiner Premiere in Locarno wurde er auch schon – wohl ohne böse Absicht – als «Pflichtfilm für Schulen» angepriesen. Fast alle Episoden sind, was für Kurzfilme von zehn bis fünfzehn Minuten Länge keine Selbstverständlichkeit ist, in sich geschlossen. Als Patchwork der einzelnen, sehr individuell ausgearbeiteten Geschichten wirkt auch das gesamte Werk in seiner Dramaturgie erstaunlich rund. Hier wird die starke Hand der Dschoint-Ventschr-Produzenten deutlich spürbar. Wer den Dokumentarfilm Noël Field von Werner Schweizer, Samirs Kompagnon, gesehen hat, weiss, woher die formale Idee für die mit statistischem Material angereicherten Intermezzi zwischen den einzelnen Filmen stammen. Die bewegten Tafeln wirken zwar zuweilen wie die etwas bürokratische Nacherzählung des Gesehenen, geben aber Abstand, machen Kopf und Auge wieder frei für das Folgende.

Id hopp schwyz fulvio bernasconi

Der lange Weg ins Selbstvertrauen

Jeder Entwurf eines Lebens, und sei es das eigene, bleibt ehrlicherweise im Zustand der Skizze. Stina Werenfels stammt aus Basel und ist Vierteljüdin. Auch sie steht vor einem Rätsel: «Wie wäre ich gewesen, wenn ich in einer jüdischen Familie aufgewachsen wäre?» Ähnlich wie Wageh George pflegt Werenfels in ihrem Kurzfilm Making of a Jew die offen-journalistische Erzählform. Da baumeln Mikrophone ins Bild. Die Regisseurin selbst taucht vor der Kamera auf, um Ausleuchtung und Schärfe zu optimieren. Ihren unsicheren Stand im Leben verquickt sie – inhaltlich sehr gelungen – mit der scheinbar unlösbaren Frage nach der idealen Länge ihrer fremdartigen Haarpracht. Ein Coiffeur spielt in Gedanken mit Mord, ein Rabbi redet weise und mahnt die junge Jüdin zu Geduld auf dem langen Weg ins Selbstvertrauen.

Trotz der irrwitzigen Montage (Sabine Krayenbühl) wirkt Making of a Jew nie gebastelt, sondern leichtfüssig wandelnd zwischen etablierten Dokumentarfilmformen und einer neuen, digitalen Dynamik.

Natürlich speist sich die grossartige Lebendigkeit der meisten ID Swiss-Geschichten aus der autobiographischen Zerrissenheit ihrer Autoren. Das Sitzen zwischen den Stühlen erzeugt die nötige Fallhöhe für Drama und Komik. Die «echten» Schweizer im ID Swiss-Ensemble rutschen dann auch, ein wenig blass, aus dem multikulturellen Rahmen. Der Zürcher Thomas Thümena gab an der Pressekonferenz in Locarno unumwunden zu, dass ihm das spannungsreiche Moment in seiner Biographie gefehlt habe. In Train fantôme behandelt er die Problematik des Röstigrabens. Obwohl manche der Aussagen, die Thümena in einer Rekrutenschule zu Tage fördert, in ihrer Schärfe erstaunen, wird man den Verdacht nicht los, dass er mit seiner Recherche unter dem Motto «Könnte es in der Schweiz demnächst zu einem Bürgerkrieg kommen?» den Bogen letztlich überspannt. Wie viel Dramatik birgt eine reine Schweizer Existenz? Man kommt um die zugegebenermassen ketzerische Frage nur schlecht herum.

Das Problem der Schweiz wird auch mit ID Swiss nicht abschliessend geklärt sein. Und doch gibt der Film Auskunft über etwas, das sich in letzter Zeit merklich verschoben hat. Suchten die Bichsels, die Muschgs, die Murers ihre Schweiz in der Schweiz, eine neue Heimat in den alten Grenzen, scheint die junge Schweiz über sich hinaus wachsen zu wollen. Thema ist nicht mehr der Streit der Ideen, sondern die Kollision der verschiedenen Kulturen, die sich auch in der Schweiz zunehmend einmischen. Das weniger aus einer inneren Offenheit des Landes heraus, als bedingt durch ökonomische Zwänge. Die Schweiz kann sich heute einiges leisten. Ob die Suche nach einer «Schweizer Identität» nach wie vor dazugehören sollte, ist mehr als fraglich. So absurd es auch klingt: besonders davon spricht ID Swiss.

Id mixed up nadia fares

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1999 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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