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Gripsholm 028

Gripsholm

Darf man? hätte Tucholsky wohl gefragt und ebenso lapidar geantwortet: man darf. Dürfen darf man. Dürfen muss man. Kuss auf Lydia geben ebenso wie «Schloss Gripsholm» verfilmen (wobei die Vorsilbe ver nicht ganz harmlos ist; man beachte ihre Bedeutung etwa in: verachten, versalzen, oder Versehen).

Text: Walt R. Vian / 01. Okt. 2000

Darf man? hätte Tucholsky wohl gefragt und ebenso lapidar geantwortet: man darf. Dürfen darf man. Dürfen muss man. Kuss auf Lydia geben ebenso wie «Schloss Gripsholm» verfilmen (wobei die Vorsilbe ver nicht ganz harmlos ist; man beachte ihre Bedeutung etwa in: verachten, versalzen, oder Versehen).

Der Stoff, der schöne

Aber schön mal bei der Reihe nach. «Schloss Gripsholm» ist eine Sommergeschichte, die der Schriftsteller, Texter, Journalist, Gerichtsbericht­erstatter, Film- und Theaterkritiker, Erzähler Kurt Tucholsky, der seinen Leserinnen und Lesern vor ­allem, aber natürlich nicht nur, durch «Die Weltbühne» auch unter den Pseudonymen: Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser bekannt war, 1931 veröffentlicht hat. Die Handlung in dieser Erzählung, die geht in etwa so: Der Autor fährt mit Lydia, die er auch Prinzessin nennt, nach Schweden; da finden sie ein Schlöss­chen, das den erdverbundenen Namen «Gripsholm» trägt, und lassen sich nieder; dann kommt Karlchen; Karlchen ist wieder weg und Billie ist da; und dann ist der Urlaub auch schon zu Ende – und die Sommer­geschichte aus. In der eingeflochtenen Neben­handlung hat ein kleines Mädchen schrecklich Angst und leidet furchtbar unter der tyrannischen Erziehung im nahe beim Schloss gelegenen Kinderheim, wird aber ganz legal von den Sommergästen aus den Fängen der herrschsüchtigen Leiterin befreit. Die Handlung ist demnach gerade mal das Gerippe der Erzählung. Kurz: Da ist Raum. Raum für Lebensgefühl, Zeitgeist – life style, wie man heute wohl formulieren müsste.

Die Zeit schreibt mit

1931. 1963. 2000. Eine geradezu exemplarische Anordnung. 1931 die Erzählung von Kurt Tucholsky. 1963 schloss Gripsholm, ein Film von Kurt Hoffmann, und jetzt Gripsholm in der Regie von Xavier Koller.

Bei Tucholsky beginnt die Geschichte – so Tucholsky – «da, wo alle besseren Geschichten anfangen: am Bahnhof.» Peter und Lydia fahren (von Berlin) über Kopenhagen nach Schweden. «Die Landschaft wartete auf den Sommer und sagte: Ich bin karg.» Dann mieten sie. «Die Prinzessin badete Probe, und ich musste mich darüber freuen, wie sie nackt durchs Zimmer gehen konnte.» Sie baden im See, liegen nackt am Ufer, rollen «verdöst und trunken von Licht, Luft und Wasser nach Hause; Stille; Essen; Trinken; Schlaf; Ruhe – Urlaub.» In einem Satz, dem bekanntesten aus der ganzen Erzählung: «Wir lagen auf der Wiese und baumelten mit der Seele.»

Auch der Film von Kurt Hoffmann – der im November neunzig wird – beginnt am Bahnhof. Allerdings am Bahnhof Altona in Hamburg. Gleich Schnitt in die Wohnung von Frau Kremser, die Zimmer untervermietet und Lydia ermahnt: «Früher war das ganz anders. Früher, da stimmte die Reihenfolge: Erst Standesamt und dann ver­reiste man.» Dennoch gab die FSK – einst geläufige Abkürzung für: Freiwillige Selbstkontrolle – den Film damals erst ab achtzehn Jahren frei – man muss sich das mal vorstellen.

Ein Hauch von St. Germain des Prés weht herüber, die Figuren bis auf Frau Kremser und einige andere spiessige Nebenfiguren geben sich in schloss Gripsholm – moderat kultiviert – existenzialistisch: nonkonform. Und sicherlich wollte Hoffmann den aufgestauten Nierentisch-Mief aus den Fünfzigern mit etwas Frivolität aufmischen. Nun ja, die sechziger Jahre. Reisen war eher wenig verbreitet. Die Kinogeher kannten das Ausland vorwiegend von Postkarten. Kein Wunder, dass Hoffmann seine Zuschauer mit ein paar Post­karten­ansichten bedient. Selbst weisse Schwäne gibts immer mal wieder im Hintergrund. Die welt-gewandte Dame trägt schmucke Handschuhe nebst Handtasche. Man vergnügt sich mit schnitti-gen Motorbooten und schnellen Cabriolets. Stoff, aus dem Träume mal waren. Roman Holiday lässt grüssen, verstärkt noch dadurch, dass eine längst vergessene Jana Brejchová die Prinzessin möglichst à la manière d’Audrey Hepburn gibt. Das Werk musste ja seine Produktionskosten einspielen.

Zu Zeiten Tuchos war diese Liebesgeschichte mit Lydia im fernen Schweden – die gerade mal 87 von den gegen viertausend Seiten veröffentlichter Arbeiten umfasst, die in den gesammelten Werken von Kurt Tucholsky in der Ausgabe von 1960 vorliegen – unkonventionell, zu Zeiten Hoffmanns auch. Heute wirkte sie – nur als solche verfilmt – eher konventionell. Wo läge ihr Reiz, wo das Besondere? Von daher erweist sich der Ansatz in Gripsholm, die Geschichte in ihre Zeit und in das Werk ihres Autors – wie es im Abspann so schön heisst: «Dieser Film verknüpft Elemente aus Schloss Gripsholm mit Momenten aus dem Leben von Kurt Tucholsky» – einzubetten, als klug und richtig.

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Tucholsky fliegt

Zwar ist Karlchen im Original «nach Stockholm in einem Flugzeug geflattert», kommt aber ganz konventionell bei den Freunden an, die er in der Sommerfrische besucht. In Gripsholm hängt er plötzlich am Himmel und dreht noch eine Runde, bevor er sanft landet. Aber, dass Tucholsky also­gleich in Karlchens Flugzeug steigt und abhebt, überrascht uns nicht weniger als Lydia. Doch der Gedanke – wer immer ihn hatte, in welcher Phase der Entwicklung des Drehbuchs er auch herbei­geflattert sein mag – ist nicht von schlechten Eltern.

Fliegen über Schweden, aber auch autofahren in Schweden und viel mit dem Fahrrad unterwegs sein, das bringt Bewegung in die Bilder – und wie sagte doch schon Hitchcock: ein Mord im fahrenden Zug ist besser als nur ein Mord.

Kurt Hoffmann benötigte noch eine simulierte Telefonverbindung zwischen Peter und Lydia, um vom Bahnhof in die Wohnung von Frau Kremser umzuschneiden. Heute können die Übergänge zwischen Erinnerung und virtueller Gegenwart fliessend gestaltet werden, eine Überblendung zwischen «Berlin» und «Gripsholm» beschleunigt die Bildfolge.

Urlaub in Schweden?

Durch die Verknüpfung mit dem Leben Tucholskys dringen aber auch die beträchtlichen Sorgen des Alltags ins Schloss Gripsholm vor. Und so wird der Aufenthalt in Schweden bei Xavier Koller zur Emigra­tion – was ja den Fakten entspricht. Sorgen kommen auf: Etwa durch die mitgebrachten neusten Zeitungen aus Deutschland. Die gibt es im Original zwar auch, aber diskreter: «Es knisterte. «Steck die Zeitungen weg!» sagte ich. «Habt ihr gelesen …?» sagte er. Und da war es. Da war die Zeit. Wir hatten geglaubt, der Zeit entrinnen zu können. Man kann das nicht, sie kommt nach.»

Auch die angespielten politischen Meinungsverschiedenheiten mit Karlchen bringen Unruhe in den Urlaub. Bei Tucholsky muss man sich Karlchen ungefähr so vorstellen: «Die grössten Vor­züge dieses Mannes lagen, neben seiner Zuverlässigkeit, im Negativen: was er alles nicht sagte, was er nicht tat, nicht anstellte ... Er rauchte die Welt an, wunderte sich über gar nichts mehr, war ein braver ­Arbeiter im Aktengarten des Herrn, ohne dabei ein Trockenmieter seiner selbst zu werden. Hier und da fiel er in Liebe und Sünde ... und dann ging es wieder eine Weile.» Ein Freund fürs Leben also. Einer, der die Welt anraucht, sympathisiert niemals mit Hitler. Die Charakterisierung in Gripsholm – ein Drehbuch wird verblüffenderweise weder im Vor- noch im Abspann ausgewiesen – gipfelt aber im Anwurf: «Dir läuft die braune ­Sauce doch schon aus den Ohren.» Zuletzt sehen wir Karlchen zwischen Braunen unter Hakenkreuzen beim nächtlichen Vergnügen im Berliner Kabarett, während Tucho am Billardtisch auf Gripsholm verzweifelt – vielleicht war die Opferung der Freundschaft tatsächlich der dramaturgische Preis, der für eine angemessene Aktualisierung des Stoffes zu entrichten war.

Lebensgefühl

«Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte», 1912 veröffentlicht, war mit 24 Seiten gewissermassen die Skizze, ein Vorentwurf für das spätere «Schloss Gripsholm», noch kaum durchtränkt von der Zeit: es gibt noch Hoffnung, dass sich das Jahrhundert zum guten wenden wird. Erster und Zweiter Weltkrieg stehen noch bevor, werden noch nicht mal erahnt. Als «Schloss Gripsholm» erschien, spielte die gedankliche Übertragung von Angst im Heim und Angst daheim sowohl für den Autor wie auch für die geneigte Leserin, den geneigten Leser. Tucholskys Bücher wurden bald öffent­lich verbrannt – auch wenn er das eher seinen politischen Kommentaren zu «danken» hatte. Kurt Hoffmann dann blendet die Nebengeschichte mit dem Kind vollständig aus. Jeder Verweis auf die Vergangenheit wäre in den Hoch-Zeiten des Wirtschaftswunders kommerziell mit fatalen Folgen verbunden gewesen. In der Version von Xavier Koller wird ein kleines Blumenmädchen schon in den ersten ­Minuten gewaltsam aus dem Berliner Nachtklub verdrängt – ihr Judenstern fällt Tucholsky vor die Füsse. Die assoziative Verknüpfung mit dem Kind, das in Schweden leidet, ist gegeben. Obwohl Hoffmann eigentlich näher am Text bleibt, ist er weiter von Tucholsky entfernt als Koller.

Eine Mehrheit hielt das, was Tucho mit und ohne seine Lydia da so alles liebte und lebte, für entartet. In unserer Multioptionsgesellschaft ist das immerhin eine Option. An der Oberfläche haben wir ihn eingeholt – aber im Kern?

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2000 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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