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Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel

Seit hundertfünfzig Jahren existiert im jurassischen Delsberg eine jüdi­sche Gemeinde. Heute zählt sie nur noch ein paar wenige Mitglieder; sie sind unschlüssig: Keine zehn Männer mehr sind in unserer Mitte, dürfen wir in dieser Besetzung den Gottesdienst überhaupt noch abhalten?

Text: Pierre Lachat / 01. Mär. 2000

Ethnische Säuberer haben’s schwer, weil jedes Vertreiben und Ausrotten, selbst kleiner Völker, logistisch harzt. Zäh und listig überdauern viele Verfolgte in versteckten Nischen und entlegenen Regionen und narren ihre wütenden Peiniger. Mag sein, die Schweiz (zum Beispiel) hat während des Weltkriegs opportunistisch gehandelt, indem sie Flüchtlinge bald aufnahm, bald zurückwies. Anderseits stellte sie auch eines jener Reservate, in denen jüdische Kultur erhalten blieb, während sie in andern Gegenden Europas vernichtet wurde. Der Umstand ist zu würdigen, ehe sich fragt, ob er als histo­risches Verdienst gelten darf.

Seit hundertfünfzig Jahren existiert im jurassischen Delsberg eine jüdi­sche Gemeinde. Heute zählt sie nur noch ein paar wenige Mitglieder; sie sind unschlüssig: Keine zehn Männer mehr sind in unserer Mitte, dürfen wir in dieser Besetzung den Gottesdienst überhaupt noch abhalten? Aber die Handvoll betagter Gläubiger ist unabweisbar vorhanden und mit keinem Mittel von der Stelle zu befördern. Die paar Familien sind alles in allem unbeschadet davongekommen (bis heute), verglichen mit so vielen andern auf dem Kontinent.

Dabei haben offene und versteckte Diskriminierung Tradition. Gerade in den verwinkelten, lichtlosen, rückständigen, verarmten Tälern zwischen Basel und Biel, Pruntrut und Olten hat es ­Unduldsamkeit genug gegeben, weit über die Epoche hinaus, als (nicht nur) Deutschland den Rassismus zur Staatsreligion erhob. Und in jüngster Zeit hat die Intoleranz kaum abgenommen. Aber eigentliche Pogrome blieben aus. Ein brüchiger Schutz, ein mehr oder weniger wohlwollendes Gewähren­lassen haben überwogen.

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Schleichende Selbstzersetzung

Statt schon wieder stereotyp zu jammern über Mitschuld oder Benachteiligung, geht eine Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel ganz allgemein dem historischen und gegenwärtigen Dasein der Juden in der Nordwestschweizer Diaspora nach: dem Werden und Vergehen der Gemeinden, dem ­unbeugsamen Geist, in dem sie den (kleinen und grossen) Anfeindungen widerstanden haben. Von Spur zu Spur führen die Lebensgeschichten der letzten Juden von Delsberg in die gesamte Region hinaus und bis über die nahen Grenzen, immer weitere konzentrische Kreise ziehend. Mit dem Gefüge ihrer Motive und Variationen erlangt die Erzählweise des Films so etwas wie einen sinfonischen Charakter. Ein Gesamtbild zeichnet und rundet sich ab.

Was dem Autor, Franz Rickenbach, und seinen Zeugen zuvorderst nahe geht, ist die schleichende Selbstzersetzung der jüdischen Kultur, die sich nicht anders aufzulösen scheint als die (dominante) christliche. Das hat zur höchst fragwürdigen Folge, dass sich die eine wie die andere – und wohl alle übrigen hierzulande ebenso – verliert in einer Postmoderne ohne erkennbare Eigen­schaften, die eine exklusive Gültigkeit beansprucht. Pasolini war einer der ersten, die erkannten, wie sich die Entwicklungen in Europa von 1960 an auswirken: gleichmachend, einebnend. Eine um die andere werden gewachsene Lebensarten ausgelöscht.

Dabei meint Toleranz gerade nicht, dass die Unterschiede zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen zu tilgen seien. Ausgleich bedeutet vielmehr, dass die Partikularismen ein­ander (im Rang) ebenbürtig sein sollten. In manchem darf das Judentum von vor 1950, wie es in der Erinnerung von Rickenbachs Zeugen erscheint, einem ohne weiteres mittelalterlich vorkommen: ähnlich wie das Christentum jener selben Epoche. Aber beide Bekenntnisse hatten noch so etwas wie Charakter. Und das ist es, was den säkularisierten, alles gleichschaltenden und in allem gleichgültigen Post-Formen abgeht. Im äussersten Fall kommt eine Zeit, da wird niemand mehr Jude sein dürfen, aber auch keiner mehr Christ oder Muslim.

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Von der Fiktion zur Dokumentation

Jedes einzelne Bild seines Films sei inszeniert, sagt Franz Rickenbach, und damit begibt er sich unverblümt in Kontrast zu den landläufigen Lehren ­jenes Dokumentarismus, der die so­genannt unverstellte Realität ins Auge ­fasst. Und nahezu provozierend fügt der Autor hinzu, er habe die Schönheit des Zerfalls förmlich gesucht und ausgeleuchtet und auch bewusst die Schönheit auf den Gesichtern der Menschen: die Gefühle der Melancholie und der Freude.

Die 35-mm-Kamera, die erstmals seit langem wieder einem (Schweizer) Nichtspielfilm das Gepräge gibt, ist mehr als ein ästhetischer Luxus; sie wird mit ihren ausgeklügelten, zelebrierenden Bewegungen zum umtriebigen Mitgestalter, der sich auch ungeniert selber darstellt: schaut bloss her, wie aussagekräftig ich schwenke und ka­driere. Verglichen mit mir, heisst das auch, wird so manches Bild auf 16-mm oder Video skizzenhaft aussehen.

Die merkwürdige Spannung, die Rickenbach erzeugt, ergibt sich aus dem ansehnlichen Bildraum, den das Kinoformat umreisst, und aus der Kärglichkeit, ja Hinfälligkeit der Zeugnisse jüdischen Lebens in Delsberg und an den andern Orten. Zwischen dem Gefilmten und der Form wird das Gefälle um so merklicher, als der Autor den Tonraum dann sehr ähnlich wie den optischen behandelt: mittels extensiver Arbeit mit Geräuschen und weit mehr noch mittels einer sich vordrängenden, eigens geschriebenen, unverhüllt emotionalisierenden Musik. Fast naiv straft Rickenbach den Gemeinplatz Lügen, in der Audiovision lohne sich ein grösserer technischer und gestalterischer Aufwand nur dann, wenn das, was man ­filmen wolle, schon selber von stattlichem Ausmass sei.

Quer zu den Kategorien und Doktrinen

Die Absicht, (für einmal) die Unter­scheidung zwischen Fiktion und Dokumentation aufzuheben, wird bei Rickenbach so offensichtlich wie der Umstand, dass der Schritt ausnahmsweise von der Spielfilmseite her gemacht wird. Denn üblicherweise sind es die Dokumentaristen, die versuchen, Verfahren aus Narration und Erfindung zu übernehmen, um sie in ihre eigenen Formen einzupassen.

Eine Erneuerung der stilistischen Mittel ist im Schweizer Film notorisch überfällig. Von daher braucht es Übungen wie die, die Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel anstellt: ein Film quer zu den Kategorien und Doktrinen, zuvorderst auch quer, indem er das Allgemeingültige aus der provinziellen ­Beschränkung schöpft, zu den ewigen Wahrheiten des Marktes.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2000 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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