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Zornige Küsse


In einer katholischen Internatsschule hat auch die Regisseurin Judith Kennel zwei Jahre ihrer Jugendzeit verbracht, bevor sie aus disziplinarischen Gründen von der Schule flog. Sie selber sei wie Lea ein rebellisches Mädchen gewesen. Die Idee, einen Film, der in ­einem Mädcheninternat spielt, zu drehen, hatte die Regisseurin schon vor mehreren Jahren.

Text: Miriam Nussbaumer / 01. Mär. 2000

Eine trostlose Gegend: Himmel, Schnee, Felsen, alles grau. Die Zeit zwischen Winter und Frühling. Die Landschaft ist nicht mehr mit einer weissen Schicht bedeckt, doch der Frühling ­lässt noch keine Blume und keinen Grashalm spriessen. Der geschmolzene Schnee hinterlässt hässliche braunschwarze Flecken, die einen dunkel anstarren. Das Gefühl der Ruhe und Einsamkeit wird durch die langsame, melancholische Musik, die aus der Landschaft aufzusteigen scheint, noch verstärkt. Plötzlich: Ohrenbetäubend laute, aggressive Musik. Diese dröhnt aus einem Auto, das auf der sich dem Hang entlang schlängelnden Strasse durch das karge Gebirge fährt. Auf dem Rücksitz sitzt Lea mit dem vibrierenden CD-Player auf dem Schoss. Im Rückspiegel sieht man den missbilligenden Blick ihrer Mutter. Und schon ist man wieder aus dem Auto draussen und hört wieder die leise Musik, die das Auto den Berg hinauf zu begleiten scheint. Ziel der Fahrt ist das katholische Mädcheninternat, wo Lea ihr Abitur machen soll. Lea: Lederjacke, rot geschminkte Lippen, dunkel umrandete Augen, Sonnenbrille, schwarz lackierte Fingernägel. Mit ihrem Auftreten durchbricht sie nicht nur die Ruhe der Berglandschaft, sondern auch diejenige des Internats. Während ihre Mutter sich noch mit der Oberin in deren Büro unterhält, platzt Lea mitten in die Chorprobe der Internatsschülerinnen, die sie erstaunt und neugierig mustern. Lea macht rechtsumkehrt und setzt sich im Gang auf die Treppe, wo sie trotzig bis in die Nacht sitzen bleibt. Sie denkt nämlich nicht daran, sich hier für länger einzurichten. Als dann aber vier ihrer neuen Mitschülerinnen aus dem Dunkeln auftauchen und sie überreden, mit ihnen einen Joint zu rauchen, merkt Lea, dass sie hier im Internat nicht die Einzige ist, die weg will.

In einer katholischen Internatsschule hat auch die Regisseurin Judith Kennel zwei Jahre ihrer Jugendzeit verbracht, bevor sie aus disziplinarischen Gründen von der Schule flog. Sie selber sei wie Lea ein rebellisches Mädchen gewesen. Die Idee, einen Film, der in ­einem Mädcheninternat spielt, zu drehen, hatte die Regisseurin schon vor mehreren Jahren. Die Abgeschlossenheit eines solchen Instituts empfand ­Judith Kennel als interessante dramaturgische Herausforderung, eine Geschichte über die erste Liebe, die Pubertät und über die Suche nach dem eige­nen Weg zu erfinden. Da es für die Mädchen wie auch für die Nonnen oder den Pfarrer schwierig ist, der Abgeschlossenheit des Internats zu entkommen, sind Konflikte vorprogrammiert.

Und in solche Konflikte stürzt sich Lea kopfüber hinein. Denn für sie zählt im Moment nur eines: Sie will weg aus diesem Internat. Zuerst versucht sie mit Trotzigkeit, Unnahbarkeit und ihrem frechen Mundwerk einen Rausschmiss zu provozieren. Dem Pfarrer ruft sie stinkfrech «Wichser» hinterher, als er sie wegen des Joints zur Rede stellt, und fragt ihn mitten in der Philosophie-Stunde lächelnd, ob er denn noch Jungfrau sei. Der Priester ist aber nicht auf den Mund gefallen und kontert schlagfertig. Auch auf die Nonnen macht Leas Benehmen keinen grossen Eindruck, die Oberin meint nur: «Da haben wir schon ganz andere hingekriegt!» Lea aber ist nicht zu bremsen. Zusammen mit ihrer Freundin Katrin heckt sie einen verwegenen Plan aus. Und Lea ist sich sicher: «Auf Händen werden sie uns aus diesem Scheissinternat tragen.»

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«Ich habe lange Gespräche mit den Darstellerinnen geführt und versucht, so viel wie möglich von ihrem Charakter, ihren persönlichen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten zu erfassen», sagt Judith Kennel. «Vieles habe ich dann in ihre Figuren hineingeschrieben.» Die Dialoge der Teenager wirken realitätsnah, und sicher wird sich die ­eine oder andere Zuschauerin in einem der kichernden und giftelnden Mäd­chen wiedererkennen. Dass ein gefühlvoller Film entstanden ist, liegt nicht nur an den mehrheitlich weiblichen Schauspielerinnen, sondern auch daran, dass Judith Kennel für die wichtigsten Funktionen in der Crew Frauen auswählte: Sophie Maintigneux für die Kamera, Ingrid Städeli für den Ton, Lilo Gerber für den Schnitt und Susanne Jauch, Monica Schmid und Simone Pfluger für Ausstattung, Kostüme und Maske. Dass so viele Frauen unter den Mitgliedern der Equipe sind, ist jedoch, so Judith Kennel, kein bewusstes Konzept, sondern mehr ein erfreulicher Zufall.

Leas Plan, den jungen Pfarrer zu verführen und ihn nachher wegen sexueller Belästigung anzuzeigen, ist aber leider gar nicht so einfach auszuführen, wie sie sich das vorgestellt hat. Die Verführungsszene haben sie und Katrin zwar schon genaustens eingeübt und geprobt, mit Schokocrème als Lippenstift und nur mit einem knappen Nachthemd bekleidet, «damit man die Brüste besser sieht». Mehrere Versuche, an den Pfarrer heranzukommen, scheitern an seiner Unnahbarkeit und seiner priesterlichen Überzeugung. Auf Leas indiskrete Fragen hat er immer eine schlagfertige und sichere Antwort bereit. Aber Lea gibt nicht so rasch auf. Nur hat sie leider bei ihrem Plan nicht mit ihren eigenen und den Gefühlen des Pfarrers gerechnet. Immer ihr Ziel vor Augen gelingt es Lea mehrere Male, mit dem Pfarrer alleine zu sein und sich mit ihm zu unterhalten. Ohne dass die beiden es wollen, kommen sie sich dabei langsam näher. So entwickelt sich aus dem anfänglichen Duell eine versöhnlichere Beziehung. Der Pfarrer erkennt, dass hinter dem rebellischen Mädchen eine junge und verantwortungsbewusste Frau steckt, und Lea wiederum entdeckt, dass seine unnahbare Art nur eine Maske ist, hinter der sich ein Mensch mit Ängsten, Träumen und Zweifeln versteckt.

Wie diese Maske langsam Risse bekommt, zeigt Jürgen Vogel als Pfarrer vor allem mit seiner Mimik. Sein ständig starrer Gesichtsausdruck lässt einen sehnsüchtig auf irgendeine Gefühls­regung warten. Wenn sich dann sein Mund endlich einmal zu einem, wenn auch nur angedeuteten, Lächeln verzieht, bekommt dieses sofort eine Bedeutung. Es steckt also doch ein Wesen mit Gefühlen hinter der Fassade. Bei Lea hingegen bestehen diesbezüglich keine Zweifel. Sie schafft es nicht, ihre Gefühle zu verstecken. Die deutsche Jungschauspielerin Maria Simon interpretiert die Veränderung, die das pubertierende Mädchen durchmacht, glaubwürdig und mit viel Gefühl. Beide Hauptdarsteller erleben eine Entwicklung, die feinfühlig und überzeugend dargestellt wird, und auch heikle Szenen, die leicht ungewollt komisch oder peinlich wirken könnten, werden gekonnt gemeistert.

Judith Kennel erzählt in ihrem Film vom Erwachsenwerden, von der ersten Liebe, von der schwierigen Zeit, in der man nicht mehr ganz Kind ist, aber auch noch nicht ganz Frau. Trotz der hoffnungslosen Liebe der beiden Protagonisten ist Zornige Küsse kein trauriger Film. Immer wieder wird der Zuschauer zum Schmunzeln gebracht durch die verrückten Ideen der Mädchen – Geburtstagsparties in der Sakristei und Messwein, um sich zu betrinken – durch die «kurligen» Nonnen und die süsse Unsicherheit des Pfarrers. Zornige Küsse ist ein Film, der ans Herz geht. Doch einer, der nur ans Herz geht, wenn man sich auch auf ihn einlässt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2000 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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