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Birthday1

Birthday

Der Schweizer Regisseur Stefan Jäger, dem die symbolschwere biographische Marke nach eigenem Bekunden nie zu schaffen machte, hat sich zu seinem dreissigsten Geburtstag dennoch etwas Besonderes einfallen lassen. Er hat die vier Schauspieler Bibiana Beg­lau, Tamara Simunovic, Harald Koch und Claudio Caiolo angeschrieben und ihnen vorgeschlagen, aus gegebenem Anlass einen Film über vier gleichaltrige Freunde zu drehen, die sich nach achtjähriger Trennung wiedersehen und über ein Jahr verteilt gemeinsam die dreissigsten Geburtstage feiern, wie man sich das einst versprochen hatte.

Text: Matthias Christen / 01. Dez. 2001

Der dreissigste Geburtstag ist ein merkwürdiges Datum. Wahrscheinlich zum ersten Mal mischt sich in die gewohnte Vorfreude auf das kommende Fest ein leises Unbehagen, das sich mitunter zu eigentlichen Depressionen auswächst. Denn mit dem Anbruch des dritten Lebensjahrzehnts ist die Jugend endgültig vorbei, die man sich mit ein bisschen Zahlenmagie grosszügig bis ins neunundzwanzigste Jahr verlängert hatte. Der Schweizer Regisseur Stefan Jäger, dem die symbolschwere biographische Marke nach eigenem Bekunden nie zu schaffen machte, hat sich zu seinem dreissigsten Geburtstag dennoch etwas Besonderes einfallen lassen. Er hat die vier Schauspieler Bibiana Beg­lau, Tamara Simunovic, Harald Koch und Claudio Caiolo angeschrieben und ihnen vorgeschlagen, aus gegebenem Anlass einen Film über vier gleichaltrige Freunde zu drehen, die sich nach achtjähriger Trennung wiedersehen und über ein Jahr verteilt gemeinsam die dreissigsten Geburtstage feiern, wie man sich das einst versprochen hatte.

Jäger hat bewusst auf ein Drehbuch verzichtet und stattdessen in langen Gesprächen mit den Darstellerinnen und Darstellern die Figuren und deren Lebensgeschichte entwickelt. Was sich zwischen den zwei Frauen und zwei Männern während der gemeinsam verbrachten Geburtstagsfeste jeweils abspielt, war nur in groben Zügen festgelegt. Die Handlungsabläufe wurden vor Drehbeginn zwar geprobt, den vorgegebenen Rahmen mit Dia­logen und Emotionen auszufüllen, blieb jedoch den vier Protagonisten überlassen – die Jury des Max Ophüls Festivals 2001 hat Stefan Jäger «für diese befreiende Erweiterung der filmischen Erzählformen» übrigens den Drehbuchpreis verliehen.

Mit der Improvisation als Mittel der Gestaltung zu arbeiten, stellt hohe Anforderungen nicht nur an die Akteure, sondern auch an den Kameramann. Er muss eng an den Figuren bleiben, um den unerwarteten Wendungen des Geschehens folgen zu können, und das ist Stefan Runge mit seiner mobilen ­digitalen Kamera hervorragend gelungen. Seine Bilder haben einen ausgeprägten dokumentarischen Look, der durch das Aufblasen des digitalen Ausgangsmaterials auf 35mm-Zelluloid-Film noch verstärkt wird. Birthday sieht dadurch auf den ersten Blick aus wie ein Home-Video, wobei Runge aber die Räume, in denen die Figuren zu Hause sind, über Licht und Farbgebung präzise voneinander absetzt: ein kühles Blau für die mondäne Loft, in der Tamara und ihr Liebhaber, ein blasierter Jungunternehmer, die Freunde empfangen, in scharfem Kontrast dazu warme Rottöne für die einfache italienische ­Fischerhütte von Claudio, der in all den Jahren sich von Tamara, seiner alten Liebe, nie wirklich hat lösen können, die dezente Farbmischung von Haralds heimischen Bücherwänden und ein auffällig helles Weiss für Bibianas fast leere Berliner Wohnung.

Aus rund fünfunddreissig Stunden Material, mehrheitlich Plansequenzen, hat Jäger mit seinen Cuttern Nicholas Goodwin und Oliver Keidel einen anderthalbstündigen Film geschnitten. Obwohl die Situationen sich wieder­holen – vier Freunde feiern über ein Jahr hinweg im kleinen Kreis miteinander Geburtstag –, obwohl es also keine durchgängige Handlung gibt, kommt birthday nie an einen toten Punkt. Das liegt zunächst an der Montage: Jäger zieht den letzten Geburtstag, denjenigen von Bibiana, an den Anfang des Films vor. Als Tamara, Claudio und Harald bei ihr eintreffen, schwebt Bi­biana zwischen Leben und Tod. Sie hat Ernst gemacht mit dem Entscheid, dass mit dreissig Schluss sei, und Unmengen von Schlaftabletten geschluckt. Nur Harald, dem sie all die Jahre am nächs­ten stand, hat von Bibianas Plänen gewusst, und dieses Geheimnis teilt das Publikum mit ihm bis zum Schluss. Die drei anderen Geburtstage, die in einer Rückblende chronologisch erzählt werden, unterschneidet Jäger mit Szenen, in denen die Freunde verzweifelt die sterbende Bibiana zu retten versuchen, und schafft so einen Kontrapunkt zur Freude und Ausgelassenheit der gemeinsamen Treffen.

Für Spannung sorgen allerdings auch die besonderen Umstände, unter de­nen die Freunde zusammenkommen. Feste setzen die im Alltag geltenden ­Regeln vorübergehend ausser Kraft und entwickeln dadurch mitunter eine eigen­­­willige Dynamik. Schon Thomas Vin­­terbergs festen, mit dem Jägers birth--day einiges gemeinsam hat, mach­te sich den feierlichen Anlass zunutze, um die emotionalen Spannungen zwischen den Figuren aufbrechen zu lassen. Auch Birthday erzählt, freilich über ­eine Abfolge von vier Geburts­­­­tagen hinweg, die Geschichte einer zu­neh­­menden, immer radikaleren (Selbst-)­Enthüllung der Freunde und ihrer ­Geheimnisse. Harald verrät, dass er mit ­einem Mann zusammenlebt, Claudio, dass es neben seiner Jugendliebe Tamara in seinem Leben für keine andere Frau Platz gibt, Tamara und ­Bibi wiederum eröffnen dem fassungslosen Claudio, dass er urspünglich nur Ge­gen­­stand einer Wette zwischen den beiden Frauen war, mit dem Ziel, am Strand ihre Verführungskünste zu messen – ein Umstand übrigens, den Jäger dem Darsteller des Claudio bis zuletzt verschwiegen hat. Und wenn schliesslich Harald bei einem gemeinsamen Bad im Mittelmeer Bibiana seine heimliche Liebe gesteht, ist das wahrscheinlich eine der ergreifendsten Liebes­erklärungen, die im Kino seit langem zu sehen war.

Mit jedem neuen Fest wird die Beziehung zwischen Bibiana, Tamara, Harald und Claudio intimer. Unaufhaltsam drängt die wiedererwachte Freundschaft alles andere in den Hintergrund: Tamaras und Haralds Partnerschaften, die Arbeit, den Alltag. Selbst die Frage, wie die vier die letzten acht Jahre verbracht haben, wird bald bedeutungslos. Birthday erreicht auf diese Weise eine beeindruckende emotionale Dichte, die nicht zuletzt daher rührt, dass Bibiana Beglau, Tamara ­Simunovic, Claudio Caiolo und Harald Koch förmlich in ihren Rollen aufgehen. Zwischen den Darstellern und ihren gleichnamigen Figuren scheinen die Grenzen sich aufzulösen, was dem Geschehen auf der Leinwand eine Intensität gibt, der man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann.

Birthday ist in nur zehn Tagen gedreht und grösstenteils aus privaten Mitteln finanziert worden. Die Freiheiten, die die vergleichsweise billige digitale Technik bietet, hat Jäger genutzt, um einen eigenwilligen, starken Film zu machen. Birthday ist kaum für das ganz grosse Publikum bestimmt, dafür aber umso persönlicher und anrührend auch für Leute, die die magische Marke «dreissig» schon hinter sich haben.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2001 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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