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Oltre il confine

Darf die Kritikerin dieses unzweifelhaft gut gemeinte Werk, das in eine Zeit hitziger Grenzen-Diskussionen fällt, auf Grund laufen lassen? Ungern. Und doch gilt für Oltre il confine: hehre Absicht und ihr gelungener kreativer Niederschlag sind zwei verschiedene Dinge.

Text: Birgit Schmid / 01. Dez. 2002

Kann denn soviel Engagement, die idealistische Haltung und das Postulat der Menschlichkeit, die diesen Film tragen, Schiffbruch erleiden? Anders gefragt: Darf die Kritikerin dieses unzweifelhaft gut gemeinte Werk, das in eine Zeit hitziger Grenzen-Diskussionen fällt, auf Grund laufen lassen? Ungern. Und doch gilt für Oltre il confine: hehre Absicht und ihr gelungener kreativer Niederschlag sind zwei verschiedene Dinge. Was dem Italo-Schweizer Rolando Colla in seiner Kurzfilmserie Einspruch i–ii (Teil drei ist in Produktion) sehr schön gelingt, scheitert im Langspielfilm; wird dort in vier bis neun Minuten eine kleine individuelle Flüchtlingstragödie mit wenigen Mitteln eindringlich verdichtet, überbordet hier das knapp zweistündige Drama um eine gut situierte Turiner Architektin, die sich in einen papierlosen Bosnier verliebt und sich für ihn und seine Kinder einzusetzen beginnt. Die attraktive Agnese, viel beschäftigte Businessfrau, Mitte vierzig, hielt sich bisher, psychischer Schutzwall sei Dank, Probleme solcher Art vom Hals. So glänzt sie auch am Sterbebett ihres Vaters, der in einem Kriegsveteranenheim dahinvegetiert, durch Abwesenheit. Nachtwache schiebt an ihrer Stelle Reuf, der aus Ex-Yugoslawien nach Italien geflüchtet ist. Als sein illegales Dasein auffliegt, hilft ihm Agnese spontan unterzutauchen; Solidarität aus Dank. In der Folge macht die Protagonistin – mit einer Wendung aus der Drehbuchpraxis ausgedrückt – die Entwicklung zum Gutmenschen durch. Diese wird tüchtig angetrieben durch Agneses Feuerfangen für den gut aussehenden Mann; als sie mit ihrem forschen, irgendwie inadäquat wirkenden Begehren Reufs Leiden nicht durchbrechen kann, beschliesst sie, ins kriegsversehrte Bosnien zu reisen, um die jüngste Tochter des Witwers aus einer Kinderheimruine nach Italien zu holen. Die traurige Reise in ein traumatisiertes Land mündet ins kleine Happyend; in der Fiktion wird das Engagement verdankt.

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Doch das ist noch nicht alles. Auch Agnese hat ein Trauma aus ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten, und hier schlägt Oltre il confine den Bogen vom Balkankrieg (der Film spielt 1993) zum Zweiten Weltkrieg. Angekurbelt durch die Begegnung mit dem bosnischen Flüchtling, erinnert sie sich an die eigene Familiengeschichte. In verwischten Rückblenden sieht man, wie sie als kleines Mädchen von ihrem seit dem Russlandeinsatz psychotischen Vater drangsaliert wird. Die Zeitgeschichte wiederholt sich und schlägt sich, zwar durch unterschiedliche Erfahrungen, aber doch immer gleich prekär, in der persönlichen Geschichte nieder.

Dieser Film macht etwas unglücklich. Nicht nur der erzählten tragischen Schicksale wegen, die zuweilen wie eine Kumulation von Fallbeispielen anmuten, die der Regisseur eingehend studiert und an den Originalschauplätzen gesehen und überliefert bekommen hat. Sondern Colla hat mit Oltre il confine schlicht zuviel gewollt. Resultat ist eine Überdosis an Dramatik und der Hang zum Sentimentalen. Die Liebesgeschichte unter schwierigen, von der Politik vorgegebenen Bedingungen und als interkultureller Clash erlangt in der Fülle des tragischen Materials keine Tiefe. Reuf, der Flüchtling, bleibt (als Figur) flüchtig. Aber auch sein Fluchtversuch (sinnbildlich: aus der Geschichte, aus dem Liebesverhältnis) in der Mitte des Films endet am Maschendrahtzaun an der italienisch-schweizerischen Grenze.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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