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Ernstfall in Havanna

Ernstfall in Havanna ist so etwas wie eine Swatch. Nichts für die Ewigkeit, aber originelle Massenware mit klar deklarierter Herkunft, individuellen Zügen und einem konsequenten Konzept dahinter.

Text: Michael Sennhauser / 01. Mär. 2002

Es mag ja sein, dass es den Schweizer Film nicht gibt; böse Zungen halten ihn seit Jahrzehnten für wenig mehr als ein Gerücht. Aber es gibt Traditionen im Schweizer Film. Und Traditionen sind die besten Realitätsanker einer Kultur. Eine dieser Traditionen im Schweizer Film besagt: Je pompöser, egoistischer, unsympathischer eine Figur daherkommt, desto feiner ist ihr Basler Dialekt. Was sich in Franz Schnyders Ueli-Filmen bewährt hat, funktioniert auch heute noch, um eine Figur ohne viel Aufwand «abzustempeln».

Wenn in der ersten Einstellung von Ernstfall in Havanna Botschafter Ernst O. Müller seine beiden Untergebenen Bruno Rüegg und Botschaftsrat Stefan Balsiger «baseldytsch» in den Senkel stellt – auf seiner Luxusjacht, die «Flüelen» heisst – sind in wenigen Momenten die wichtigsten Elemente für die nachfolgende Tragikomödie etabliert: Ein Machtgefälle, eine exotische Umgebung mit vertrauten Elementen, eine Vorgeschichte und die Ausgangslage für kommende Verwicklungen.

Botschafter Müller fliegt nämlich für einige Tage in die Schweiz zurück und übergibt die Botschaftsroutine an seine Untergebenen, nicht ohne Balsiger daran zu erinnern, dass er sich beim letzten Mal mit einer wilden Party in der Botschaft ein Disziplinarverfahren eingefangen hat. Das ist doppelt komisch, denn dieser biedere Balsiger versichert ziemlich glaubwürdig, dass die «Sache mit dem Table-Dance» auf des Botschafters Schreibtisch damals einfach seiner Kontrolle entglitten sei …In dieser knapp anderthalb Minuten dauernden Exposition wird nach allen Regeln der Sitcom-geschulten industriellen Drehbuchkunst verfahren, sauber, klar und mit mechanischer Präzision.

Und dann folgt eine überraschende zweite Exposition, eine Glanzleistung von Hauptdarsteller und Autor Giacobbo und von Regisseurin Sabine Boss: Die wortlose Charakterisierung des Antihelden Balsiger irgendwo zwischen weltmännischer Köpenickiade und Walter Roderers Buchhalter Nötzli. Zu den hinreissenden Klängen eines Mambos schält sich Balsiger in Unterwäsche aus seinem einsamen Bett, wackelt hüftschlingernd durch seine Wohnung, schlürft eine Ovi als wär‘s ein Cocktail, wirft sich in Schale, giesst liebevoll seine Pflanzen und fährt schliesslich in seinem feuerroten Fünfziger-Chromschlitten in die Botschaft, ganz Held seiner Träume. Für die nächsten paar Tage ist er, Balsiger, der Botschafter.

Diese doppelte Exposition zeigt sehr schön das (schweizerische) Dilemma und seine geschickte Verpackung: Komödien müssen einfach konstruiert sein und den Meissel an der richtigen Stelle ansetzen. Sophistication wäre schön (und möglich, das deutet Ernstfall in Havanna immer wieder an), darf aber das Publikum nicht überfordern.

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Daniel Schmids Satiremärchen Beresina hatte sich mit anständigem Erfolg zwischen diese Stühle gewagt. Dabei haben Schmids Erfahrung und Status zusammen mit seinem unbeirrbar träumerischen Stil weniger eine Brücke geschlagen als vielmehr zwischen den Polen eine Hängematte platziert. Wie in Beresina bringt auch in Ernstfall in Havanna eine Gelegenheitsprostituierte die labile Ordnung eines bieder-verschlagenen Systems ins Wanken. Die kubanische Barfrau Miranda Esposito nimmt nach einem Schäferstündchen mit einem US-Senator diesen ausgerechnet in Balsigers Wohnung als Geisel, um für sich die Ausreise aus Kuba zu erzwingen. Damit erweisen sich die von der Schweizer Botschaft im Hinblick auf die kubanisch-amerikanischen Beziehungen geleisteten «Guten Dienste» als zweifelhafte und vor allem absolut nicht medientaugliche Angelegenheit. Während nun Balsiger mit Hilfe der Schweizer Fotografin Bea Graber versucht, Miranda zum Aufgeben ihres wahnwitzigen Planes zu bewegen, kommt der aufgeregte Botschafter aus Bern zurück nach Havanna, und in der Schweiz brütet der Krisenstab des EDA über diesem drohenden neuen Schweinebucht-Debakel.

Während der Film schön zügig auf den Höhepunkt der Verwicklungen zusteuert, werden allerdings auch immer deutlicher einzelne Stränge seiner Mechanik sichtbar, wie bei einer Uhr mit Glasboden. Da ist zum Beispiel das Problem der komödienimmanenten Liebesgeschichte. Dass sich die souveräne Schweizer Fotografin über den hochstaplerischen Botschaftsangestellten und seine durchsichtigen Anmassungen amüsiert, ist durchaus glaubwürdig, ebenso ihre schwesterliche Verbundenheit mit der Barfrau Miranda, welche ihrer romantischen Kubasicht die verbitterte einer enttäuschten Einheimischen entgegenhält. Dass sich aber im Verlaufe der Geschichte Balsiger und die Fotografin verlieben, das bleibt eine Komödienkonvention, der weder die Regie noch die Darsteller allzu viel abgewinnen können. Immerhin entsteht aus der Konstellation zwischen der Kubanerin Miranda, der Schweizer Fotografin und einer ehrgeizigen amerikanischen CNN-Reporterin (im Film heisst der Sender CNC) ein souveränes weibliches Dreieck, welches mit dem aufgeregten Gewusel all der pompösen Männchen angenehm kontrastiert.

Ein weiteres – aber durchaus erfreuliches – Sandkorn im Filmgetriebe ist Hauptdarsteller Giacobbo, der seinen Balsiger hin und wieder so spielt wie seine vom Fernsehen her so beliebten Karikaturen: als Maske. Während aber Giacobbos Inder Rajif, sein irrer Kiffer oder sein Roger Schawinski gerade darum witzig sind, weil aus ihnen immer auch Giacobbo herausguckt, führt der gleiche Effekt bei Botschaftsrat Balsiger zu einer kleinen Schizophrenie. Denn immer wieder blitzt hinter der komischen Verzweiflung des überforderten Botschaftsrats eine abgeklärte Einsicht in die Fassadenhaftigkeit seiner Rolle auf. Die Zuhältervorwürfe, die er von Bea Graber beiläufig zu hören bekommt, kontert er später, als sie ihm einen kompromittierenden Film zur Aufbewahrung übergibt, mit der trockenen Bemerkung, so werde aus einem Zuhälter ein Hehler. Das sind zwar überaus witzige Momente, sie zeigen aber auch wieder das Dilemma jeder Komödie, die sich im Hinblick auf eine Figur zwischen ihrer funktionalen und charakterlichen Zeichnung nicht entscheiden mag – oder darf. Ein klassisch-dramatisches Drehbuch entwickelt seine Szenen aus dem Charakter der Figuren heraus (character-driven), Komödien dagegen setzen sich um eines Gags willen auch schon einmal über einen Charakter hinweg und geben ihm eine vorübergehende Souveränität, die er eigentlich nicht haben dürfte.

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Ausgesprochen witzig, aber wiederum dem Erzählfluss nicht immer gleich zuträglich sind diverse helvetische Gags, die der Autor von «Viktors Spätprogramm» seinem erwartungsfrohen Publikum wohl nicht vorenthalten mochte. Die Zeichnung des «Aussenministers» Bundesrat Hitz, von Jean-Pierre Cornu souverän und unverkennbar als Abbild unseres amtierenden EDA-Vorstehers Josef Deiss angelegt, wirft einen ebenso aus der Geschichte, wie die meisten anderen der oft durchaus gelungenen helvetisch-politischen Gags. Wenn sich der Bundesrat angesichts der Berichterstattung von CNC spontan fragt, was denn SF DRS zur Angelegenheit zu berichten wisse und beim Zappen nur auf das Testbild stösst, ist das ebenso witzig wie das Geständnis seines Mitarbeiters, er habe das entsprechende Pressecommuniqué eben noch nicht rausgelassen.

Die Regie von Sabine Boss bemüht sich immer wieder um jenen Realismus, der dem Team von Anfang an vorgeschwebt hat. Eine Straight Face Comedy ohne groteske Übertreibungen hätten sie angestrebt, erklärt Viktor Giacobbo in den Presseunterlagen, mit Charakteren, die nur knapp neben der Wirklichkeit stünden … Das gelingt zwar immer wieder, aber nicht durchgehend. Aber insgesamt tut auch in dieser Hinsicht dem Film die Handschrift von Sabine Boss sichtlich gut. Die beiläufige und für einen Schweizer Fernsehfilm doch überraschende Selbstverständlichkeit, mit welcher sie in ihrem TV-Krimi «Studers erster Fall» (2001) die Kriminalbeamtin Claudia Studer nackt auf ihrem Bett herumspringen liess, verhilft ihr auch in Ernstfall in Havanna zu einer spürbaren Souveränität. Wenn Bea Graber vom schlafenden US-Senator und der wild entschlossenen Miranda kompromittierende Fotos schiessen soll, wundert sich wohl niemand über den kurzfristig blanken Busen der Schauspielerin Carla Sanchez. Um wie viel verklemmter wirkte da Daniel Schmids Inszenierung einer an sich hübsch grotesken Domina-Szene in Beresina, welche aber in ihrem Bemühen um Diskretion die Hauptdarstellerin fast körperlos im Raum hängen liess – durchaus märchenhaft zwar, aber durch die Auslassung eben auch zweischneidig in der Wirkung. Sabine Boss bringt dagegen gerade über die Zeichnung der Frauenfiguren jenen Realismus ins Spiel, der die permanente Selbstüberschätzung der männlichen Figuren so schön farbig macht.

Clever und smart, ohne Übertreibung: Mit Ernstfall in Havanna zeigt das Team um Viktor Giacobbo und Regisseurin Sabine Boss ein feines Fingerspitzengefühl für traditionsgerechte und doch zeitgemässe Schweizer Wertarbeit. Ernstfall in Havanna ist so etwas wie eine Swatch. Nichts für die Ewigkeit, aber originelle Massenware mit klar deklarierter Herkunft, individuellen Zügen und einem konsequenten Konzept dahinter. Und das ist für einmal – bitteschön! – auch als Kompliment zu verstehen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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