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Verhör und Tod in Winterthur

Die Aufgabe des Filmemachers ist es dann, die Toten keinesfalls ihrer ewigen Ruhe zu überlassen, sondern sie zu einer Art Auferstehung zu bringen. Denn gewiss, sie reden keine Silbe mehr, aber sie brauchen (wenn man so will) auch nicht länger das Maul zu halten, und durch wessen Worte sie dann Zeugnis ablegen, der hat vermutlich die farbigsten Geschichten zu erzählen.

Text: Pierre Lachat / 01. Mär. 2002

Zwischen 1965 und 1985 suchen Bewegungen junger Rebellen die Städte der Schweiz nacheinander heim. Das bescheidene Winterthur ist gut zwölf Jahre später dran als das weltläufig sich gebende Zürich, das mit Stolz nur Monate hinter Paris oder Berlin her hinkt, auch wenn’s um politische Unruhen geht. Die «Wintis», wie sich eine Gruppe von Ungebärdigen in der mittleren Industriestadt des helvetischen Nordostens nennt, sind ein etwas verlorener Nachgedanke zu den Protesten, die andernorts im Land bereits auslaufen. Entsprechend nehmen lokale Aktionen und Reaktionen mitunter den Charakter einer Provinzposse an, doch dann auch den eines Trauerspiels.

Die Unzufriedenen stiften etwelche Brände, zünden auch einmal einen (kaum besonders brisanten) Sprengkörper und verursachen allerhand sonstigen Sachschaden. Manches erschöpft sich in surrealistischem Schabernack. Die Behörde, die selbst den Wurf eines Farbbeutels zum halbterroristischen Haupt- und Staatsdelikt erheben möchte, untersucht, beschattet, verhaftet, verhört, verwahrt und beschuldigt mit einer Unzimperlichkeit, die gewiss bewirkt, dass nach einer Weile wieder Ruhe herrscht. Die «Wintis» lassen sich aufreiben und verlaufen sich zum Teil von allein. Mindestens zweimal schiesst allerdings der Eifer, mit dem die Stadt vor den Bürgerschrecks geschützt werden soll, übers Ziel hinaus.

Der Mitwisserschaft verdächtigt, erhängt sich eine Arrestantin in ihrer Zelle. Ihr Freund erhält Jahre aufgebrummt, das Urteil wird in der Appellation wieder aufgehoben. Die Beteiligung an einem Attentat gegen das Haus eines damaligen Mitglieds der Landesregierung bleibt vermutet. Die Anklage hält den Anschlag für menschengefährdend, die Verteidigung für harmlos. Fortan wird die Praxis bei der Verfolgung politischer Straftaten mindestens vorsichtiger, vielleicht sogar milder. Der Kalte Krieg mit seinen offenen und versteckten, teils leeren, teils wahr gemachten Drohungen gegen alle Linien-untreuen geht zu Ende. Aleks Weber, Kunstmaler, stirbt 1994 im Exil.

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Demarkation zwischen Diesseits und Jenseits

Der brauchte nur hereinzukommen, heisst es einmal. Wo es auch war, binnen Minuten hatte er durch seine blosse Präsenz einen Wirbel ausgelöst. So einer war das. Seine Bilder, die gerade auch den Alltag hinter Gittern schildern, geben dem Dokumentarfilm von Richard Dindo das Gepräge. Verhör und Tod in Winterthur verhört einmal mehr die Lebenden, um das Schattenreich der Toten zu erforschen. Wiederholt hat der Autor Geschichten von ähnlicher Art aufgerollt. Schon Dani, Michi, Renato & Max, Grüningers Fall und Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. bewegten sich entlang der haarfeinen Demarkation zwischen Diesseits und Jenseits: im Spannungsfeld von (schon) Verschiedenen und (noch) Hinterbliebenen.

Die Aufgabe des Filmemachers ist es dann, die Toten keinesfalls ihrer ewigen Ruhe zu überlassen, sondern sie zu einer Art Auferstehung zu bringen. Denn gewiss, sie reden keine Silbe mehr, aber sie brauchen (wenn man so will) auch nicht länger das Maul zu halten, und durch wessen Worte sie dann Zeugnis ablegen, der hat vermutlich die farbigsten Geschichten zu erzählen. Während er, der Überlebende, der damals dabei war oder gar mit dabei – die Mutter, der WG-Genosse, der Gefängniswärter –, von sich aus je länger, je öfter verschweigen, vergessen, verwischen wird und sich Anderweitigem zuwenden. Die Besinnung auf die Dahingegangenen – um nicht von einer Art Befragung nach Lebzeiten zu sprechen – reanimiert seine Aussagefreudigkeit. Er redet nicht über, sondern für die, die es das Leben gekostet hat. Er tut es an ihrer Stelle und, selbst wenn er ihr Gegner war, kaum noch einmal gegen sie.

In diesem Sinn plumpsen (und passen) die meisten Arbeiten Richard Dindos aus nahezu drei Jahrzehnten zwar mühelos in ihre jeweilige Gegenwart hinein. Doch tun sie es bloss, um über die Aktualität hinaus nach dem Weitern zu greifen. Vom Hier und Jetzt aus werden die beiden komplementären Bereiche des unmittelbaren, des direkt abbildbaren Daseins erschlossen: wer oder was immer (jeweils) davongereist ist hinaus in die Distanzen von Geographie und Historie. Auf jedes Bild von heute drückt dann spürbar die Last der Jahre, und jedem, der vor die Kamera tritt, schaut eine Schar von desaparecidos über die Schulter.

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Funkenschlag zwischen Präsens und Präteritum

Auf diese Weise werden eigentliche Geister herbeigerufen und die Fluchtlinien der Zeit so kräftig wie möglich rückwärts ausgezogen. Zwischen dem Präsens und dem Präteritum kommt es zu einer heftigen Reibung, und da sprüht ein reicher Funkenschlag. So wirken zum Beispiel nicht nur die recht und schlecht davon gekommenen «Wintis» reichlich abgekämpft und vorzeitig verwelkt, sondern es ergeht ihren einstigen Widersachern kaum besser: dem Alt-Bundesrat und dem Polizei-Offizier. Zunehmend erscheint nicht mehr das Verflossene als Prolog des Greifbaren, sondern umgekehrt: das Vorhandene wie ein Epilog des Entschwundenen. Wo ist denn, so fragt sich, das wahre Leben der Überlebenden geblieben: lag es in jenen bewegten Jahren, oder liegt es auch noch in den heutigen?

So dreht sich der Lauf der Gegenwart, die in die Vergangenheit strömt, um: die Vergangenheit tröpfelt zurück in die Gegenwart. Doch gibt es keinen Ausgleich zwischen den beiden Dimensionen wie bei kommunizierenden Röhren. Statt aus einer Balance bezieht der Film seine Energie aus ihrem wechselnden Gefälle. Desgleichen gibt es keine Versöhnung zwischen den Seiten, die einander bekämpften. Der Konflikt wurde nie beendigt, er hat einfach aufgehört sich fortzusetzen.

Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren – und der Unsichtbaren – wird zur Grundmethode. Sie nimmt unsere Einbildungskraft in Anspruch, die aufgerufen ist zu vervollständigen, was immer nur halb fertig sein kann. Die besten Dokumentarfilme sind die, die nie restlos alles aufdecken können und wollen. Und ganz zuletzt ist mehr als eine Erzählung zum Besten gegeben worden. Denn es ist wieder einmal evident geworden, warum idealerweise Stoff und Historie in eines fallen: nämlich in Geschichte(n). Die Summe der Biographien totalisiert sich zu dem, was man die Geschichte nennt. Die «Wintis» und ihre Verfolger waren nur Chargen, aber aus der Art ihrer Auftritte lässt sich auf die Hauptdarsteller schliessen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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