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Behind Me

«Keinesfalls aber wollte ich», sagt Norbert Wiedmer, «mich Bruno Ganz biographisch nähern.» Ausfragen wollte er ihn offenkundig auch nicht, also begleitete er ihn zu den Proben und Aufführungen von «Faust» in der Inszenierung von Peter Stein, zu den Lesungen von Texten der Nobelpreisträger T.S. Eliot und Giorgos Seferis für die CD «Wenn Wasser wäre».

Text: Walt R. Vian / 01. Juli 2002

Die Bewegung der S-Bahnzüge erfolgt meistens von rechts nach links. Die Boote dagegen fahren mehrheitlich von links nach rechts. Land und Wasser, Berlin und Venedig. Arbeit. Sehnsucht.

Wellen branden ans Ufer. Ein verfallenes Strandhotel. Stilvolles Schwarzweiss. Im verlassenen Haus Bruno Ganz mit einem kleinen Mädchen, das ein Märchen erzählt haben möchte: «Es war einmal ein kleiner Junge, der wollte ans Meer.» Ein Ruderboot, bunte Boote, die sich unter einer Brücke hindurch bewegen. Dann: Blick auf Venedig. Selma Lagerlöfs «Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen» hat, beinahe unmerklich, das Diktat über die Tonspur übernommen. Gleichzeitig wurde auch (ohne dass man dies hier schon wissen kann) der Kameramann abgelöst – bald steuert auch Bruno Ganz eine erste Aufnahme als Kameramann bei.

Schnitt in die Garderoben und dann zu den Proben für die Inszenierung von «Faust» in Berlin. Arbeiten am Text, memorieren im Off, modulieren in den Proben. Arbeiten im Theater. Variationen der Szene im Studierzimmer Fausts. Bühnenumbau. Venedig. Aufnahmen, die zeigen, was Bruno Ganz gerade filmt, dazu seine Stimme im Off, rezitierend, formulierend: «So ist es dir gelungen / Vergangenheit sei hinter uns getan / und behind me – sieht’s irgendwie ganz anständig aus. Eine Fähre, ein Mädchen. Schön.»

Ein Gang im verlassenen Hotel und ein Gang, der zur Bühne führt: beinahe in die Bewegung geschnitten, geht Bruno Ganz 1994 und 2001 den Gängen entlang, als wenn die Räume, die Zeiten aneinander grenzen würden. S-Bahn in Berlin, Boote in Venedig, in gegenläufiger Bewegung. Eine Luftaufnahme von Venedig. Akustisch wird das Märchen aufgenommen: «Wir Graugänse nennen sie die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.»

«Keinesfalls aber wollte ich», sagt Norbert Wiedmer, «mich Bruno Ganz biographisch nähern.» Ausfragen wollte er ihn offenkundig auch nicht, also begleitete er ihn zu den Proben und Aufführungen von «Faust» in der Inszenierung von Peter Stein, zu den Lesungen von Texten der Nobelpreisträger T.S. Eliot und Giorgos Seferis für die CD «Wenn Wasser wäre», die bei Manfred Eicher – dessen ECM Records wir etwa «Histoire(s) du cinéma» verdanken – produziert wurde und Gedichte wie «The Waste Land», «Das Haus am Meer», «Der lüsterne Elpenor» oder «Er heisst aber Orest» vereint. Er folgte Bruno Ganz nach Salzburg zur Aufführung der «Opera di musica immaginistica: Experimentum Mundi» von Daniele Abbado, welche Giorgio Battistelli dirigierte, filmte ihn beim Radiointerview mit Martin Walder für eine Reflexe-Sendung von Radio DRS und war bei der Verleihung des Theaterpreises Berlin 2001 mit der Kamera zugegen.

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Ausserdem hat Norbert Wiedmer den völlig unbekannten Heller Tag aufgestöbert, ein Film, den André Nitzschke 1994 mit Bruno Ganz drehte und über den in der Berliner Zeitung stand: «Ein unheilbar kranker Schauspieler durchlebt seine letzten Tage. Sein Verhältnis zu Raum, Zeit und Wirklichkeit folgt seiner eigenen Befindlichkeit. André Nitzschke inszeniert die Tagträume in stilvollem Schwarzweiss, aber mit dürftig-nebulösem Ergebnis.» Ausgegraben hat Norbert Wiedmer auch Die Dienstreise, eine von Ivo Barnabò Micheli für den «Schaukasten» des WDR gedrehte TV-Dokumentation, in der ein 38jähriger Bruno Ganz, notabene als WK-Soldat, Erklärungen zum Beruf des Schauspielers abgibt und seine Mutter andeutet, wie es gekommen ist, dass ihr Bruno Schauspieler wurde.

Mit diesen Elementen arbeiteten Norbert Wiedmer und sein Filmeditor Stefan Kälin nur zum Teil chronologisch, aber immer assoziativ verbindend, wenn sie nicht gerade den Gegensatz suchten. Wasser und Land, Lust und Tod, Mühsal und Sehnsucht. «Der Welt», rezitiert Mephisto, «ist nicht beizukommen, mit Wellen Stürmen …» «Ich glaubte, dass Wasser weh tun würde», erzählt der Schauspieler in heller tag dem kleinen Mädchen. «Wenn Wasser wäre und kein Fels …», heisst es beim Arbeiten am Text im Studio. Modulieren bei der Aufnahme, kontrollieren beim Abhören. Und bei Giorgio Battiste in Salzburg sind die Worte zu vernehmen: «… dann ist für die Sterblichen die rechte Zeit zur Seefahrt / das flinke Schiff ins Meer zu ziehen / Herbststurm, der die See aufwühlt – die rechte Zeit ist in allem das beste».

«Faust» gibt aber dennoch gewissermassen die Entwicklung vor, vom Studierzimmer her bis hin zum Tod, die Proben schreiten voran, die Aufführungen folgen. heller tag wird dunkler. Älter werden wir alle.

«Willst du Milch?» lautet die Frage, gewissermassen Ganz privat und ganz ohne die laufende Kamera zu beachten, an einen Kollegen. Privat auch Adam Oest, Bruno Ganz und Robert Hunger-Bühler im Restaurant, links und rechts ein Mephisto, Faust dazwischen, und sie bestellen: Seeteufel gebraten, dazu «Sancerre oder Chablis?»

Was die Welt wohl «im Innersten zusammenhält», liess Goethe seinen Faust sich fragen, und wer sich beruflich täglich mit Texten befasst, die solche Fragen aufwerfen, wird wohl kaum umhin kommen, sich solchen Fragen privat auch zu stellen.

Das Leben bewegt sich auf den Tod hin und – ob nun Hamlet: «But let it be. Horatio, I am dead; Things standing thus unknown, shall live behind me! And in this harsh world drawn thy breath in pain, To tell my story» herbeizitiert wird oder nicht – je länger einer gelebt hat, um so mehr liegt hinter ihm.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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