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Epsteins Nacht

Es mutet ein bisschen skurril an, wenn zu Beginn von Urs Eggers neuem Film Epsteins Nacht ausgerechnet drei Juden am Abend des christlichen Weihnachtsfests einen Empfang geben – samt geschmücktem Weihnachtsbaum in der Stube. Doch dies ist der geschickte Auftakt zu einer Geschichte, die anschaulich macht, welche unmenschlichen Folgen jüdische Vergangenheiten in Deutschland auch in der Gegenwart noch haben.

Text: Daniel Däuber / 01. Juli 2002

Es mutet ein bisschen skurril an, wenn zu Beginn von Urs Eggers neuem Film Epsteins Nacht ausgerechnet drei Juden am Abend des christlichen Weihnachtsfests einen Empfang geben – samt geschmücktem Weihnachtsbaum in der Stube. Doch dies ist der geschickte Auftakt zu einer Geschichte, die anschaulich macht, welche unmenschlichen Folgen jüdische Vergangenheiten in Deutschland auch in der Gegenwart noch haben. Das Erzählen solcher Lebensläufe wird mit einem Blick auf aktuelle Ereignisse legitimiert. Noch immer tut sich Deutschland, ja Europa schwer mit den schmutzigen Händen, die es sich in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geholt hat.

Diese unrühmliche Vergangenheit greift ganz plötzlich wieder in das Leben der zwei Brüder Adam und Karl Rose sowie ihres Freunds Jochen Epstein. Dieser und der etwas begriffsstutzige Adam begleiten die Tochter der jungen Haushälterin zu einer Christmette. Dort glaubt Jochen im katholischen Priester ihren ehemaligen KZ-Peiniger zu erkennen. Wieder zu Hause, erzählt er diese Beobachtung Adams Bruder Karl – zu dritt haben sie Birkenau mit Tricks und Glück überlebt.

Bis dahin ist alles in warmes Licht getaucht, sorgfältig komponiert, überblickbar, dank Kameraschwenks, mit künstlichem Schnee in die richtige Jahreszeit gerückt. Der Moment, als die drei KZ-Überlebenden den Priester zur Rede stellen, um seine wahre Identität zu klären, verleiht dem Film kurzzeitig Dramatik. Danach wird er aber wieder merklich ausgebremst. Es folgt eine längere Sequenz in der Kirche, die den anfänglichen Rhythmus bricht, weil sie die wirklichen Begebenheiten im KZ Birkenau nicht bebildert, sondern verbal vermittelt. Die aufwendig eingeführten Handlungsstränge werden mit einem Mal auf ein Kammerspiel zurückgestutzt.

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Für die Öffnung dieser Reduktion sorgen kurze Rückblenden auf unbeschwerte Kindertage und die traumatische Zeit im KZ. Es wird nun klar, dass Jochen Epstein der Starke des Trios ist und seine schützende Hand vor allem über Adam gehalten hat. Dass er dies nicht immer mit lauteren Mitteln getan hat, wird für alle zur schmerzlichen Gewissheit. Besonders tragisch ist es für Adam, war er doch seit Kindsbeinen in Hannah Liebermann verliebt, deren Spur sich aber in Birkenau verlor – offenbar durch Jochens Verschulden.

Die verschiedenen Zeitebenen – Kindheit, Konzentrationslager, Gegenwart – wurden im Film äusserst organisch zusammengefügt. Der Regisseur erlaubt sich gar eine vierte Ebene, zeigt sozusagen zwei Gegenwarten: jene der Konfrontation der drei Juden mit dem Ex-Hauptsturmführer und jene zwanzig Jahre danach, als Jochen noch der einzige Überlebende ist. Dann schliesst sich der Kreis der Geschichte auch, als die tot geglaubte Jugendfreundin Hannah Liebermann wieder auftaucht und für versöhnliche Momente sorgt. Dies ist, wie der gesamte Film, zurückhaltend und dennoch berührend eingefangen, überzeugend verkörpert von einem erstklassigen Darstellerensemble – insbesondere Otto Tausig, Günter Lamprecht und Annie Girardot in einem kurzen Auftritt –, untermalt von einer stimmigen Filmmusik.

Regisseur Urs Egger macht aus der jüdischen Vergangenheitsbewältigung kein grosses Spektakel, wie es das Thema durchaus zuliesse. Er beschränkt sich stattdessen auf wenige Einzelschicksale, thematisiert das Grauen der Nazi-Zeit im Kleinen – was den Film umso eindringlicher macht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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