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Monte Grande – What is Life?

Versucht man, die Art und Weise, mit der der Schweizer Dokumentarfilmer Franz Reichle an eine filmische Arbeit herangeht, auf einen Nenner zu bringen, so könnte man sagen: Es ist ein Abenteuer, auf das er den Zuschauer mitnimmt.

Text: Gerhart Waeger / 01. Okt. 2004

Versucht man, die Art und Weise, mit der der Schweizer Dokumentarfilmer Franz Reichle an eine filmische Arbeit herangeht, auf einen Nenner zu bringen, so könnte man sagen: Es ist ein Abenteuer, auf das er den Zuschauer mitnimmt. Man denkt an den Satz: Der Weg (in diesem Falle: der Film) ist das Ziel; etwas ungenauer vielleicht auch an den Begriff «Work in Progress». Naturgemäss steht am Anfang einer solchen Filmarbeit das Interesse für eine Sache oder eine Person. Reichle geht es nicht darum, einen ihm bereits bekannten Sachverhalt zu erklären oder gar zu untermauern, sondern darum, diesen Sachverhalt durch die filmische Arbeit erst zu erkennen. Es liegt auf der Hand, dass es bei einer solchen Konzeption (die das Erarbeiten eines verbindlichen Exposés praktisch verunmöglicht) äusserst schwierig ist, einen Produzenten für einen Film zu gewinnen. Als Referenz kommen lediglich die bisherigen Arbeiten des (Film-)Autors in Frage. Im Falle von Reichle wäre dies neben anderen der 1997 herausgekommene Dokumentarfilm Das Wissen vom Heilen über Lehre, Anwendung und Heilwirkung der klassischen tibetischen Medizin. Und tatsächlich bekennt Reichle in einer dem Pressedossier beigefügten «Geschichte des Films», dass sich dieser neue Film direkt aus der Arbeit an seinem letzten Film entwickelt habe.

Das weitgefasste Thema, um das es Reichle geht, wird mit der im Titel enthaltenen Frage «What is Life?» umschrieben. Der andere Teil des Titels, «Monte Grande», verweist auf ein Dorf im Norden Chiles, das, wie es im genannten Text des Pressedossiers heisst, «auf keiner Karte vorkommt». Reichle wollte dort für sein unter dem Arbeitstitel «Was ist Leben?» laufendes Filmprojekt den chilenischen Neurobiologen, Bewusstseinsforscher und Kognitionswissenschafter Francisco J. Varela treffen. Dieser sollte neben drei andern Persönlichkeiten eine der vier Hauptpersonen des Projektes werden. Beim Eintreffen Reichles war Varela todkrank und konnte den Filmer zunächst nur zu einem kurzen Gespräch empfangen – allein und ohne Kamera. Erst etwas später durfte er mit der kleinen Videokamera ein Gespräch mit ihm aufzeichnen. «Er erzählte mir sein ganzes Leben, wie ein Vermächtnis, mit allen wichtigsten Stationen, mit seinen tief greifenden Meditationserfahrungen.» Reichle fiel auf, dass Varela kaum ein Wort für die Wissenschaft übrig hatte. «Und wenn, dann war die Wissenschaft etwas Normales, nicht etwas Besonderes. Das war grossartig von diesem grossen und geschätzten Wissenschafter und Systemtheoretiker, der sein Leben lang nur einer Hauptfrage nachgegangen war, der Frage wie Körper und Geist eine Einheit bilden und interagieren können.»

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Beeindruckt von der Persönlichkeit Varelas entschloss sich Reichle, ihn zur einzigen Hauptfigur des Filmes zu machen, die Aussagen anderer Wissenschafter jedoch miteinzubeziehen. So besuchte er in Santiago Humberto Maturana, den ersten wichtigen Lehrer und späteren Partner Varelas, mit dem zusammen er auch ein populärwissenschaftliches Werk verfasste (es ist deutsch unter dem Titel «Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens» 1990 im Goldmann-Verlag erschienen). Neben verschiedenen Familienmitgliedern, die über das private Leben Varelas Auskunft geben, finden sich in der langen Liste prominenter Mitwirkender des Films auch der inzwischen verstorbene Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster sowie der Dalai Lama, mit dem Varela eine lange Freundschaft verband und der mit der von Varela in den achtziger Jahren begründeten Wissenschaftergruppe «Mind & Life» etwa alle zwei Jahre Gespräche führte, «um die westlichen Forschungsergebnisse mit den Erkenntnissen der buddhistischen Lehre zu vergleichen, neue Forschungsrichtungen einzuschlagen und anderseits der buddhistischen Tradition Impulse zu geben.» In der Religionsphilosophie und den Meditationspraktiken des Buddhismus, besonders in der darin enthaltenen Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt oder (wie es im Film einmal heisst) von der ersten und der dritten Person fand Varela eine Bestätigung seiner wissenschaftlichen Forschungen. Und man könnte sich vorstellen, dass auch Franz Reichle, der grosse Kenner des Buddhismus, über solche Themen den Zugang zu Varela gefunden hat.

Ganz allmählich lässt Reichle Varelas Thesen und Erkenntnisse in seinen Film einfliessen. In einer gewissen Weise entspricht sein Vorgehen dem Gehalt von Varelas Weltanschauung. Zwar reiht sich auch hier rein äusserlich Aussage an Aussage, doch in einer kreativen Weise, die sich dem zentralen Thema subtil annähert. Dieses lässt sich mit dem Fremdwort «Autopoiesis» umschreiben, womit ein System des «Sich selbst Kreierens» alles Lebendigen gemeint ist – im Gegensatz etwa zur darwinistischen Auffassung der Anpassung der Lebewesen an eine existierende Umwelt. Was sich in der Beschreibung recht theoretisch anhört, wird im Verlauf von Reichles Film, den man als eine Art unterhaltsamen Lernprozess verstehen kann, anschaulich und nachvollziehbar. Und gerade dies macht seine Qualitäten aus, die allerdings einem laufenden Prozess entsprechen. Reichle hat unter dem Titel Mind and Life denn auch bereits einen ergänzenden Dokumentarfilm in Arbeit.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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