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Skinhead attitude 1

Skinhead Attitude

Skinhead Attitude ist ein – politisch, sozial, gesellschaftlich, historisch – wichtiger Film, der hinschaut, wo andere über Vorurteile nicht hinwegkommen.

Text: Irene Genhart / 01. Feb. 2004

«Endlich!» hat einer meiner – kurzhaarigen, Ska-fanatischen Bekannten nach der Uraufführung von Daniel Schweizers Skinhead Attitude am letztjährigen Filmfestival von Locarno geraunt. «Ein wichtiger Film. Einer, der gut tut. Weil wir für einmal nicht in den gleichen Topf geworfen werden. » Daniel Schweizer darf stolz sein: Wem es gelingt, auch nur eine einzige Seele derart befreit aus dem Kino zu entlassen, der versteht sein Handwerk.

Skinhead Attitude ist tatsächlich ein – politisch, sozial, gesellschaftlich, historisch – wichtiger Film, der hinschaut, wo andere über Vorurteile nicht hinwegkommen: «Seit bald vierzig Jahren», umreisst der Sprecher – in der deutschen Fassung leider arg salbungsvoll und schwer ertragbar – präambelartig die Ziele, «gibt es die Skinhead-Bewegung. Wenn die Presse über sie berichtet, dann meist auf den Seiten über Ungücksfälle und Verbrechen. Gewalt, Hass, Faschismus. Doch woher kommen sie? Wer sind sie? Mit diesem Film möchte ich ihre wahre Geschichte erzählen.» Mit diesen Sätzen schreibt sich der Autor als filmendes Ich in seinen Film ein: Skinhead Attitude ist ein Film ohne Begründung, aber ein Film mit guten Gründen. Betrieben wird GeschichtsRecherche und Zustandsbeschreibung: Skinhead Attitude macht einen Schnitt durch eine Subkultur, wie sie sich Daniel Schweizer in den Jahren 2000 bis 2002 darbietet.

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Mein Ska-verrückter Bekannter, politisch ultralinks, ist einer der friedlichsten Menschen der Welt. Als «traditionelle Skins» werden Menschen wie er in Skinhead Attitude beschrieben. Sie sind antirassistisch, tanzfreudig und gehen mit Freunden gern auf ein Glas Bier. Skinhead-Sein ist eine Frage des «Lifestyles», erklärt die zweiundzwanzigjährige Karole aus der Romandie – mit Haar im typischen Skin-Frauen-Schnitt: Stirnfranen, lange Schläfen, millimeterkurzer Hinterkopf. Sie trägt enge T-Shirts, Minis, Doc Martens und schleppt eine Lonsedale Tasche mit. «Ich habe Karole kennen gelernt, als sie von einem Aupair-Aufenthalt in die Schweiz zurückkehrte. Sie hatte viel Zeit, ist mit achtzehn von der Punk-Szene in die Skin-Szene gerutscht. Ihr Lebensweg ist typisch Skin: Sie kommen aus der Arbeiterklasse und sind gegen Extremismus.»

Karole ist die naivste Figur, die man in Schweizers Film trifft. Eine Jugendliche, die als «traditionelle Skin-Frau» auch eine Repräsentantin der Jugend ist, wie man sie die letzten zwanzig Jahre hier zu Lande heranwachsen sah. Provokation ist für sie ein harmloses Spiel: Wir wollen, sagt Karole, ein wenig besonders sein. Und um besonders zu sein, ist sie bereit, sich immer verteidigen zu müssen und ihr Leben in einer von Männern bestimmten, oft machoiden Szene zu verbringen. Was Typen angehe, meint Chloe, gäbe es wohl überall auf der Welt Dummköpfe, aber unter den Skins gäbe es doch extrem viele «A ... »: Die Girls sehen klar, machen aber trotzdem mit. Zumindest in Skinhead Attitude, in dem Schweizer Karole zur Roten-Faden- Spulen-Trägerin macht. «Karole führt uns in die Skin-Szene ein», heisst es in seinem Film: Das männliche Erzähler-Ich, das man dem Alter des Regisseurs entsprechend auf vierundvierzig Jahre schätzt, und seine weibliche, junge Repräsentantin im Bild: Ein bizarres Zwiegespann, das mehr als alles andere auch auf die vertrackte Komplexität des Sujets verweist.

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Tatsächlich lassen sich selten in einem Film die Spuren des (bisweilen schwierigen) Abenteuers Filmdreh derart direkt lesen, wie in Skinhead Attitude. Von der «paradoxen» Geschichte der Skins, die er erzählen will, spricht Schweizer am Anfang seines Films und fächert diese Geschichte ausgehend von der Westschweizer Skin-Szene auf: Zurück in die Vergangenheit zum einen; nach England, Nordeuropa, die USA und Kanada zum andern. An die sechzig Jahre alt müssen die Skins der ersten Stunden sein, die Daniel Schweizer in England besucht: Laure! Aitken, Buster Bloodvessel, Jimmy Pursey, Gavin Watson. Sie erzählen von den im Boogie Woogie liegenden Wurzeln des Ska, erzählen von Jamaika und den farbigen Skins der ersten Stunde, dann von Punks, die sich in Skins verwandeln. Und dann, heisst es, kam Jan Stuart. Es entstanden erste Songtexte mit Botschaften, mit politischen Botschaften, mit zunehmend rassistischen Botschaften, und dann war er plötzlich da, der Rechtsradikalismus.

Die Bewegung spaltete sich in rechts und links: Die Geschichte der Skinheads, wie sie Schweizer in Skinhead Attitude mit viel Sinn für Dialektik, Gespür für faszinierende Augenzeugen und vielen eingespielten Musikbeispielen aufbereitet, ist spannend wie ein Krimi. Sie wird zunehmend heisser, je näher sie der Gegenwart kommt und je tiefer der Graben zwischen den beiden Aussenflügeln ist. Irgendwann erreicht Skinhead Attitude, rechts wie links freies Mikrofon bietend, den Punkt, wo Schweizer trotz Karole nicht mehr an sein Sujet herankommt, ihm Skinhead Attitude zu entgleiten beginnt. Da wird die Kamera aus der Hand geschlagen, liegt im Bild ein nackter Telefonhörer, derweil eine Beantworter-Message klar stellt, dass xy unter keinen Umständen mit yz im gleichen Film auftauchen wolle. So verschwindet die Skinhead-Bewegung in Skinhead Attitude sozusagen vor laufender Kamera im unbestimmten Nirgend- oder Irgendwo ...

Ein wichtiger Film ist Skinhead Attitude unzweifelhaft. Aber auch einer, der schon im «Attitude» des Titels vehement auf die tiefe Krux jedes Dokumentarfilms verweist, nämlich: Inwieweit er das Dokument der Selbstinszenierung seiner Protagonisten ist.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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