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Sternenberg

In Sternenberg ist die Welt noch in Ordnung. Und mit Sternenberg ist die Welt wieder in Ordnung, denn mit Sternenberg ist der Schweizer Film definitiv auf den Schweizerfilm gekommen.

Text: Walt R. Vian / 01. Apr. 2004

In Sternenberg ist die Welt noch in Ordnung. Und mit Sternenberg ist die Welt wieder in Ordnung, denn mit Sternenberg ist der Schweizer Film definitiv auf den Schweizerfilm gekommen. «Schweizer Film» war einst synonym für den «jungen», den «neuen Schweizer Film» und wurde als Gegenpol verstanden zum «alten Schweizerfilm», der abgewirtschaftet hatte, heute aber in prime time wieder – und erst noch als «schweizer film» annonciert – ausgestrahlt wird.

Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, es deutet nur an, wie sich Zeitgefühl und Wahrnehmung verschoben haben, ohne dass sich grundlegend etwas geändert hätte. Die Generation der Achtundsechziger, in Aufbruchstimmung damals, gerade dabei, die Welt und damit auch den Film neu zu erfinden, übersah oder unterschätzte die handwerklichen Fertigkeiten eines Kurt Früh etwa sehr wohl, die jungen Filminteressierten sahen ihn damals eben primär als Repräsentant einer alten Welt. Die Ablehnung galt aber kaum dem Handwerklichen an sich als vielmehr der Bravheit und Biederkeit, die sich in den Schweizerfilmen spiegelte.

Fast alles, was sich da in Sternenberg in Sternenberg zuträgt, könnte auch die Gemüter in der Oberstadtgasse in Oberstadtgass bewegt haben. Konflikte gibt es eigentlich keine, nur ab und an ein bisschen Aufregung, vor allem der Gemüter, etwa wenn plötzlich ein wildfremder Mann in der Wohnung sitzt, oder das Gerücht, dass die Schule des Dorfes geschlossen werden soll, sich zu Gewissheit verdichtet.

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Was zu Zeiten von Oberstadtgass noch nicht denkbar gewesen wäre: die Dorfschullehrerin hat ein Verhältnis mit dem Schulinspektor – was nicht nur die Zuschauer, sondern sogar die Kinder ihrer Klasse mitkriegen. Schulinspektor Freudiger verspricht seiner Geliebten, sich für den Erhalt der Schule einzusetzen, seinem Chef, Schulpräsident und Kantonsratskandidat Jauch, rät er allerdings dringend, die geplante Sparmassnahme konsequent durchzusetzen. Da hätten wir ihn also, unseren Schleimer und Wendehals, den Bösewicht unserer Geschichte, der gutbürgerliche Dimensionen keineswegs sprengt. Auch unser Kantonsratskandidat lässt sich leicht der Realität zuordnen und über Politiker darf ja – durchaus politisch korrekt – einiges öffentlich gesagt und mehr noch unausgesprochen vermutet werden. Verträgliche Sozialkritik, welche die verdiente Sonntagabendunterhaltung nicht weiter stört. Aber schon in Oberstadtgass war die miese Figur ja ein eingebildeter Prokurist, der den braven Briefträger Jucker umso rechtschaffener erstrahlen liess.

Dass die Schule aus Spargründen geschlossen werden soll, das darf doch nicht wahr sein. Franz Engi, der nach dreissig Jahren im Ausland ins Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt ist, greift ein. Franz, der mit dem Gemeindepräsidenten noch die Schulbank gedrückt hat, überzeugt die Gemeindeversammlung, ihn als Schüler in die Klasse aufzunehmen, damit die geforderte Mindestzahl von Primarschülern erhalten bleibt und die Schule nicht wie vorgesehen geschlossen werden kann, schliesslich habe er in der Kindheit wenig Zeit gehabt, in die Schule zu gehen, und dürfe nun sein «Recht auf Bildung» noch geltend machen.

Und so, wie es beschlossen wurde, geschieht es auch. Schüler Franz meldet sich bei seiner Untermieterin, der Lehrerin, zur Stelle. Freudiger macht dies wenig Freude, aber er findet schon einen Dreh. Dann sind die Verteidiger der Schule wieder am Zug. Politiker wollen ja vor allem eines: gewählt werden – das ist ihr schwächster Punkt. Demnach müssen jetzt die Presse, die Medien mobilisiert werden. Die Kinder organisieren eine Pressekonferenz, und der Kleine, der fragt: «Soll ich auch den CNN einladen?», hat die Lacher auf sicher.

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Wo ein Helikopter so offenkundig auffällig in den Bildhintergrund gerückt wird und soviel vom Himmel wie vom Fliegen gesprochen wird, da muss das Fluggerät doch auch zum Einsatz kommen. Dennoch ist es dann ein die Gemüter – wohl der meisten Zuschauer und Zuschauerinnen – bewegender Moment, als die kleine Sarah an der Pressekonferenz erscheint. Noch aber liegt Sarah im Spital und macht sich Sorgen. Ihrer Krankheit und ihren längeren Spitalaufenthalten, glaubt sie, sei es zuzuschreiben, dass die Schule geschlossen wird. Klar doch, dass Eva, ihre Lehrerin, die sie besucht, und auch der Spitalarzt Babu, der sie betreut, ihr gut zureden und sie vom Gedanken ans Sterben abzulenken versuchen.

Der Besuch der Lehrerin bei ihrer kränklichen Schülerin hat uns – nebenbei – auch die Distanz zwischen Dorf und Spital verdeutlicht. Die Pressekonferenz verdeutlicht – ebenfalls nebenbei – Eva nun, dass Freudiger ebenso wenig die Absicht hat, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, wie er sie jemals hatte, sich für den hoch und heilig versprochenen Erhalt der Schule einzusetzen; aber auch, dass der tamilische Arzt Babu ein herzensguter Mann sein muss, sonst hätte er nicht veranlasst, dass die für eine längere Autofahrt noch zu schwache Sarah kurzerhand im Helikopter, «der nur in speziellen Fällen benutzt werden darf», zur für Klein Sarah besonders wichtigen Pressekonferenz herbeigeflogen wird.

Damit wären die Karten neu verteilt. Verheiratete Männer mit Absichten werden Eva künftig ein Greuel sein. Wen soll es da noch wundern, dass die kaum erwachten zärtlichen Gefühle für den tamilischen Arzt schlagartig auf den Gefrierpunkt sinken, als sie Babu mit Frau und Kindern sieht. Halt, halt. Stop, Stop. Das kleine Missverständnis kann geklärt werden: Bajraw, die Frau an der Seite von Babu, ist gar nicht seine Frau, sondern seine Schwester, und die Kinder sind nicht seine Kinder, sondern ihre. Ausserdem erweist sie sich als eine hervorragende Köchin, und der Sternen in Sternenberg, im Haus in dem Franz und Eva je auf verschiedenen Etagen wohnen, ist als Restaurant noch immer geschlossen – kommt alles gerade recht für ein ausgelassenes Mahl und eine kleine private Party.

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Die Fähigkeiten und die Kenntnisse, die es braucht, ein funktionierendes Drehbuch herzustellen, sollen weder unterschätzt noch klein gemacht werden – aber aufregend und spannend wird es erst, wenn das reine, fast schon mechanische Funktionieren der Rädchen, die ineinander greifen, übertroffen wird, die «schöpferische Unlogik», wie es Nicolas Gessner nennt, Platz greift, Szenen sich «erstaunlich, aber eben auch plausibel» entwickeln, Handlungen unerwartete, aber schliesslich einleuchtende Wendungen nehmen. Ein paar Zutaten mehr aus dem Gewürzkasten der «schöpferischen Unlogik» hätte §§§Sternenberg durchaus noch ertragen.

Neben der Hauptgeschichte noch eine ausgewachsene Nebengeschichte parallel und verschränkt zu erzählen, neben dem Plot noch einen Subplot anzubieten, erweist sich bei den meisten Filmen als nützlich – und praktisch muss es dabei nicht einmal eine Rolle spielen, was dann als Haupt- und was als Nebensache betrachtet wird.

Schön und gut: Der Zuschauer, die Zuschauerin ahnt sehr schnell, dass der Heimkehrer der Vater der Lehrerin ist. Und das ist kein Zufall, sondern Absicht. Absicht des Drehbuchautors, der seine Hinweise pflanzt und spriessen lässt, bis sich die Vermutung zur Gewissheit verdichtet – noch lange bevor die Tochter vom Vater aufgeklärt werden kann, respektive diesem von selbst auf die Schliche kommt. Hitchcock nannte es Suspense – die Bombe, von welcher der Zuschauer weiss, dass sie unter dem Tisch der ahnungslosen Akteure tickt, ist spannender als die Bombe, die zur Überraschung aller plötzlich einfach hochgeht. Suspense ist natürlich auch, wenn der Zuschauer sich fragt: wann und vor allem wie wird das Geheimnis des heimgekehrten Vaters gelüftet – und diese Spannung erst einmal zu schaffen, ist schwieriger als der eine und die andere vielleicht denken mag.

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Die Entdeckung der Wahrheit, das Lüften des Geheimnisses, führt dann selbstverständlich auch in die Krise und zu einem Wendepunkt in der Geschichte. Die Tochter verflucht den Vater, mit dem sie sich, anfängliche Spannungen überwindend, angefreundet und zwischenzeitlich ganz schön verstanden hat. Der Vater packt seine sieben Sachen, reist ab – Abschiedsbrief hinterlegt. Ziel unbekannt. Soweit so kritisch. Will heissen: die Krise hat jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Aber weil in einem elaborierten Drehbuch eben nicht sein kann, was nicht sein darf, kommt es nun zur gutbürgerlichen, dörflicher Idylle entsprechenden – man ist versucht zu sagen: gut schweizerischen – Verfolgungsjagd. Die Lehrerin «entwendet» kurzerhand ein zufällig herumstehendes – will heissen: in einer Nebenhandlung geschickt rechtzeitig vor dem Sternen plaziertes – Töffli und jagt dem Postauto, das ihren Vater wieder zum Bahnhof bringt, von dem er herkam, hinterher. Kurve um Kurve. Take für Take.

Zwar verpasst die Tochter den Zug um Haaresbreite, sieht ihn gerade noch auf dem gegenüberliegenden Geleise anfahren, doch als der Zug sich aus dem Bild bewegt hat und die Sicht frei wird, sitzt leicht in sich zusammengefallen auf einer Perronbank der Vater noch da: Franz ist nicht abgereist. Die Tochter atmet auf, setzt sich neben ihn auf die Bank. Die Versöhnung kann stattfinden. Abbl -ENDE.

Da einem prime time Publikum aber – offenkundig oder auch nur scheinbar – nicht zugemutet werden kann, sich selbst ein paar Gedanken zu machen und die noch losen Enden nach eigenen Bedürfnissen zu verknüpfen, muss jetzt noch aufgeräumt werden. Also Aufblende: Der Vater ist nach dem Abblenden wohl noch auf der Perronbank gestorben. Jedenfalls wird Franz Engi nun angemessen feierlich auf dem Friedhof von Sternenberg beerdigt. Bajraw öffnet den Sternen wieder als Restaurant mit tamilischer Küche, ihre Kinder stellen die Weiterführung der Schule auf Jahre hinaus sicher, und die Lehrerin – eine kompetente Stellvertreterin ist bereits gefunden – erfüllt sich den jahrzehntelang gehegten Wunsch, auf Reisen zu gehen, und entschwindet mit ihrem Arzt und Traumprinzen auf  Weltreise.

Wer da nicht seufzen mag: Ende gut alles gut – dem ist nicht zu helfen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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