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Gambit 2

Gambit

In ihrer packenden Dokumentation über die Hintergründe der Seveso – Katastrophe ruft die Zürcher Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger die schrecklichen Bilder noch einmal ins Gedächtnis, ohne sie zu überstrapazieren.

Text: Stefan Volk / 01. Okt. 2005

Das kleine lombardische Städtchen Seveso gehört zu jenen Orten, die ihre Berühmtheit einer Katastrophe verdanken. Am 10. Juli 1976 ereignete sich in der dortigen Chemiefabrik «Icmesa» ein folgenschwerer Unfall. Ein Kessel explodierte; Dioxin, eine hochgiftige, unsichtbare Substanz, die vor dem Seveso–Unglück allenfalls Fachleuten ein Begriff war, entwich. Die Vegetation in der Umgebung der Fabrik verkümmerte, Zehntausende Tiere verendeten qualvoll oder wurden notgeschlachtet, Kinder wurden mit schweren Hautverletzungen in die Klinik eingeliefert. Die Bilder von Wissenschaftlern in weissen Schutzanzügen, die Gesichter hinter Mundschutz und Schutzbrillen verborgen, sind vielen bis heute in Erinnerung geblieben. Ebenso der Anblick der hilflosen Kinder mit ihren grausam verätzten Körpern, ihren entstellten Gesichtern: ein kleines Kind hockt, den gesenkten Kopf bis zur Unkenntlichkeit in Mullbinde gewickelt, auf einem Küchenstuhl, ein lächelndes Püppchen in den Armen.

In ihrer packenden Dokumentation über die Hintergründe der Seveso–Katastrophe ruft die Zürcher Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger diese Bilder jetzt noch einmal ins Gedächtnis, ohne sie zu überstrapazieren. Nur gelegentlich streut sie in ihr unaufgeregtes, schlankes «Talking–Heads–Porrnat markante Archivaufnahmen ein. Kurze Einsprengsel, die genügen, um eine ungefähre Ahnung vom Ausmass des Unglücks wachzurufen. Mehr nicht. Und mehr braucht Gisiger für ihren Film auch nicht.

Gambit beginnt mit Aufnahmen aus dem Mai letzten Jahres, die zeigen, wie an jener Stelle in Seveso, an der die Erde einst am stärksten verseucht war, ein neuer Park eingeweiht wird. Fast dreissig Jahre nach dem Unfall scheint endlich Gras darüber gewachsen. Gisiger geht es nun nicht darum, altes Leid neu aufzuwühlen. Sie fügt dem historischen Geschehen lediglich eine bislang unbekannte Perspektive hinzu. Es ist die Sichtweise von Jörg Sambeth, zum Zeitpunkt des Unglücks Technischer Direktor der «Givaudan», der die «Icmesa» unterstellt war, und ihrerseits Teil des Schweizer Chemiekonzerns «Hoffmann La–Roche». Sambeth wurde 1983 als einer der Hauptverantwortlichen für den Unfall zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt (in der Berufung wurde das Urteil auf eineinhalb Jahre bedingt reduziert). Gisigers Film basiert auf dem Manuskript zu Sambeths Tatsachenroman «Zwischenfall in Seveso».

Gambit 1

Sambeth, der seine Wahrheit, wie er selbst sagt, «aus Angst», und vielleicht auch aus Bequemlichkeit lange zurückgehalten hat, legt in Gambit Dokumente vor, die belegen, dass die Konzernspitze bereits beim Einbau der Icmesa–Anlage darüber informiert war, dass diese erhebliche Sicherheitslücken aufwies. Er präsentiert zudem ein Schreiben, in dem ihm untersagt wird, diese firmeninternen Unterlagen in seinem Prozess zu verwenden, da sie zwar ihn entlasten könnten, dafür aber die «Roche» in ein schlechtes Licht rücken würden. Es ist diese zynische Geschäftspolitik, auf die der Titel von Gisigers Film anspielt: «Gambit» ist ein Begriff aus dem Schach, bedeutet verkürzt soviel wie·Bauernopfer».

Gisiger übernimmt Sambeths Einschätzung, schlägt sich ganz auf seine Seite. Ihre Parteinahme aber findet im Verborgenen statt. Angenehm sachlich wirkt der Schnitt von Patricia Wagner, ganz dem Thema gewidmet, ohne inszenatorischen Firlefanz und ohne eine Regisseurin, die meint, sich selbst in den Vordergrund spielen zu müssen, nur weil die Doku–Mode das gerade so will. Die Kehrseite dieser Montage–Bescheidenheit ist, dass mit der Autorin im Film auch das Subjektivitätseingeständnis und eine explizit ordnende, steuernde Hand verloren gehen. So fällt es nicht immer ganz leicht, aus den kommentarlos vermittelten Aussagen der Beteiligten den roten Faden abzuleiten. Und weil aus dem Film nicht hervorgeht, dass Gisiger die ehemaligen führenden Mitarbeiter von «Hoffmann La–Roche» vergeblich um Stellungnahmen gebeten hat, muss man sich wundem, dass Sambeths zahlreichen, schwerwiegenden Vorwürfen von keiner Seite widersprochen wird. Ebenso eindringlich wie glaubhaft erklärt er beispielsweise, die «Roche–Konzernleitung habe ihm, obwohl sie von der Dioxin–Verseuchung wusste, tagelang untersagt, die lokalen Behörden zu informieren (was er schliesslich im Alleingang dennoch tat).

Mag Gisigers dokumentarischer Stil die journalistische Klarheit bei der engagierten Aufarbeitung der Seveso–Katastrophe und des späteren Dioxinfässerskandals also ein wenig trüben, so macht sie sich dadurch andererseits frei davon, einen konkreten Einzelfall nur historisch zu verwalten. Indem sie den in Deutschland aufgewachsenen Sambeth von der nationalsozialistischen Vergangenheit seines Vaters erzählen lässt und auch Sambeths Kinder befragt, deren Lebensläufe vom moralischen Konflikt ihres Vaters entscheidend geprägt wurden, öffnet sie den Film für private, menschliche Belange, entwirft sie das Porträt eines Familienvaters, der, wie Gisiger es formuliert, «in einer ver· antwortungslosen, ungerechten Welt ein verantwortungsvolles, gerechtes Leben führen will und dabei scheitert.» Über seine (wirtschafts–)politisch brisanten, erschreckenden Enthüllungen hinaus entpuppt sich Gambit damit als ein sozialkritisch mahnendes «Lehrstück» der Eigenverantwortung und Zivilcourage: überzeitlich, allgemeinmenschlich und deshalb brandaktuell.

Gambit 4

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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