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Ultima thule 03

Ultima Thule

Die Vogelschau ist ein privilegierter Blick der Kamera, der dem Menschen normalerweise nicht zusteht. Der universelle Blick gehört zum Traum wie zum Film, der seinem Wesen nach traumhaft ist.

Text: Gerhart Waeger / 01. Nov. 2005

Hans-Ulrich Schlumpfs neuer Film spielt auf verschiedenen Ebenen, die sich öfters berühren. Im Zentrum steht der von Stefan Kurt in allen Phasen der Geschichte glaubwürdig gespielte erfolgreiche Börsenhändler Fred Böhler. Zu Beginn sieht man ihn mit seiner Frau Anita und seinen Kindern David und Sara beim Frühstück. Dass es für Fred letztlich um mehr als um den täglichen Kleinkram gehen wird, ahnt man durch die stete Präsenz eines Adlers, der immer wieder gross ins Bild kommt und der den Weg des Protagonisten – teils aus luftiger Höhe, teils aus nächster Nähe – begleitet. Ob man den Riesenvogel als ein Symbol für Freds Seele oder so etwas wie sein höheres Selbst interpretieren will, bleibt dem Zuschauer überlassen. Jedenfalls vertritt er die lebendige Natur, zu der er Fred führen wird und der in ultima thule je länger je deutlicher die eigentliche Hauptrolle zukommt. Der im Titel angesprochene Ort bedeutete in der Antike ein fernes Land am nördlichen Rand der Welt, im konkreten Fall dieses Films ist es der Name der Lodge, die der Crew als Basislager in Alaska diente.

Unterwegs ins Geschäft rast Fred gedankenlos in einen Auffahrunfall, der ihm fast das Leben kosten wird. Während sein bewusstloser Körper auf der Intensivstation des Zürcher Universitätsspitals, die der versierte Dokumentarfilmer Schlumpf recht hautnah in Szene zu setzen weiss, nach allen Regeln der Kunst gepflegt wird, erlebt sein Bewusstsein (oder wenn man will: seine Seele) das, was man gemeinhin eine «Nahtod-Erfahrung» nennt. Nahtod-Erlebnisse dieser oder ähnlicher Art wurden von Menschen, die einst zwischen Tod und Leben schwebten, schon öfters beschrieben. Schlumpf kennt diese Schilderungen sehr genau, wobei ihm auffiel, dass in ihnen gewisse Motive immer wiederkehren – Motive, die einen überraschenden Bezug zur Bildsprache des Films haben und die er denn auch bewusst in der Dramaturgie von Ultima Thule verarbeitet hat: so das Gefühl des Schwebens und der damit verbundene abgehobene Blick auf das irdische Dasein, schliesslich das Erlebnis des «Lebensfilms», der in einer Krisensituation oft vor dem inneren Auge abläuft. «Es sind drei Elemente der Nahtod-Erfahrungen, die wesentlich zur Struktur und Gestaltung des Filmes beitragen», fasst Schlumpf zusammen: «Die Vogelschau, der universelle Blick und der Lebensfilm. Ihre Affinität zur Filmsprache ist offensichtlich. Die Vogelschau ist ein privilegierter Blick der Kamera, der dem Menschen normalerweise nicht zusteht. Der universelle Blick gehört zum Traum wie zum Film, der seinem Wesen nach traumhaft ist. Das Wort Lebensfilm spricht für sich und deutet auf das narrative Element, das jeden Film bestimmt.»

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Schlumpf hat das bisherige Leben seines Protagonisten so zurechtgelegt, dass dessen Traumvision ihm nicht nur neue Erfahrungen bringt, sondern auch mit seinen Erinnerungen und unerfüllten Wünschen korrespondiert. Nach einer Fahrt durch einen dunklen Tunnel sieht sich der Träumer zunächst in der Kuppel eines Observatoriums, wo ihn ein Astronom durch ein Fernrohr blicken lässt. Die unendliche Weite des Universums erschreckt ihn. Die Erde, zu der er zurück möchte, erkennt er als blauen Planeten neben andern Himmelskörpern im All – klein einerseits im Vergleich mit der Unendlichkeit des Alls, und doch einzigartig als Ort, wo Leben möglich ist und sich entwickeln kann. Gleichsam auf den Flügeln des ihn begleitenden Adlers kehrt er zur Erde zurück, schwebt über den Aletschgletscher und landet schliesslich in den Fels- und Eiswüsten Alaskas (gefilmt wurde im Wrangell-St.Elias National Park). Fred sieht einen Wanderer durch die unwirtliche Landschaft stapfen und stellt fest, dass dies niemand anders als er selber ist – ein Vorgang, der dem Ablauf der bekannten Nahtod-Erlebnissen durchaus entspricht. Dabei geht es Schlumpf nicht in erster Linie darum, das Nahtod-Erlebnis seines Protagonisten wissenschaftlich glaubwürdig nachzuvollziehen, als vielmehr um die Erkenntnisse, die sich dabei manifestieren. «Der Unfall und seine inneren Folgen», sagt er, «legitimieren den irrational-poetischen Charakter des weiteren Geschehens.»

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Während er sich durch die wilde Gebirgslandschaft kämpft, erinnert sich Fred an seinen Lehrer, den Biologen Max Hersperger, der in der Gymnasialzeit sein Vorbild war und der ihn damals auf ähnliche Expeditionen mitgenommen hatte. Es macht das Unverwechselbare von Schlumpfs Dramaturgie aus, dass er nie der denkbaren Versuchung erliegt, Freds Erinnerungen in «Rückblenden» sichtbar zu machen. Hersperger und seine naturwissenschaftlichen Erläuterungen kommen nie ins Bild. Fred formuliert sie in einem spontanen Selbstgespräch. Ins Bild kommt lediglich, gewissermassen als Quintessenz von Herspergers Ausführungen, die urtümliche Natur Alaskas, die er in seiner Vision durchwandert und die er nicht nur in der unmittelbaren Gegenwart erlebt, sondern in ihrer jahrtausendealten Entstehung. Die im Untertitel des Films angesprochene «Reise an den Rand der Welt» wird damit zu einer Zeitreise in die Vergangenheit der Erdgeschichte und damit nicht nur zu einer Begegnung mit urtümlichen Tieren wie Bisons, Elchen und Erdhörnchen, sondern auch zu einer solchen mit den kleinsten Lebewesen, den Mikroben und dem Plankton, denen man die Sedimente verdankt, die im Laufe von Millionen von Jahren das Bild der heutigen Erde geformt haben. Um es mit den Worten Schlumpfs zu sagen: «Dem Blick in den Makrokosmos am Anfang des Filmes entspricht hier ein Blick in den Mikrokosmos. Verblüffend ist die Verwandtschaft der Formen und Erscheinungen im ganz Grossen wie im ganz Kleinen. Diese Ähnlichkeit trägt dazu bei, die geheimnisvolle Verwandtschaft aller Erscheinungen der Natur sinnlich erfahrbar zu machen.» Diese sinnliche Erfahrbarkeit der Natur ist das eigentliche Thema von Ultima Thule. Schlumpf nähert sich ihr nicht durch die Ausbreitung naturwissenschaftlicher Theorien, sondern durch eine rein filmische Bildhaftigkeit, die mit dem etwas abgegriffenen Schlagwort der «Ehrfurcht vor der Natur» wohl am besten umschrieben werden kann.

Mit dem allmählichen, durch die hinreissenden Kamerafahrten Pio Corradis festgehaltenen Fortschreiten von Freds Traumvision von den scheinbar unbelebten Fels- und Eiswüsten über teils gefrorene und dann fliessende Wasserläufe bis hin zur sichtbar belebten Pflanzenwelt manifestiert sich indirekt die Überwindung der tödlichen Krise des Verunfallten und seine Rückkehr zum Leben. Musikalisch wird diese Entwicklung durch die feinfühligen Improvisationen des Pianisten und Komponisten Fazil Say begleitet. Sie verbinden die universellen Einsichten, die Ultima Thule vermitteln will, mit dem privaten Schicksal des genesenden Träumers – und sie schlagen mit den Bildern Pio Corradis zusammen den Bogen zum Ziel des Filmautors, das dieser mit den Worten umschreibt: «Es geht mir darum, die Poesie im Realen zu entdecken.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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