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Ricordare Anna

Gleich zu Beginn des Films liest man in einer Einblendung die Zeit- und Ortsangabe «Achtzigerjahre, Zürich». Und einige Dokumentarszenen der damals aktuellen Jugendunruhen setzen ein Zeichen, in welchem Zusammenhang oder zumindest unter welchen Voraussetzungen der folgende Film zu sehen ist, auch wenn dieser erst rund zehn Jahre später spielt.

Text: Gerhart Waeger / 01. Feb. 2005

Gleich zu Beginn des Films liest man in einer Einblendung die Zeit- und Ortsangabe «Achtzigerjahre, Zürich». Und einige Dokumentarszenen der damals aktuellen Jugendunruhen setzen ein Zeichen, in welchem Zusammenhang oder zumindest unter welchen Voraussetzungen der folgende Film zu sehen ist, auch wenn dieser erst rund zehn Jahre später spielt. Auch wenn die Themen der damaligen Unrast und jene von Ricordare Anna nicht unbedingt deckungsgleich sind, so spiegeln sie doch zwei Aspekte der gleichen Problematik, einer Problematik, die sich mit dem Schlagwort Generationenkonflikt nur annäherungsweise umschreiben lässt. Wenn der von Mathias Gnädinger souverän gespielte Viktor Looser zum ersten Mal ins Bild kommt, wird er gerade unfreiwillig in die Frühpensionierung entlassen. Ohne dass es explizit gesagt wird, könnte man sich vorstellen, dass sich der stets mit dem Schicksal hadernde Endfünfziger gerade durch diese neue Enttäuschung seiner vor Jahren mit ihren beiden Kindern an Aids gestorbenen Tochter Anna etwas näher fühlt als in all den Jahren, in denen er sich in seine Hassgefühle gegen Anna und deren Partner, den italienischen Musiker Salvo, verbohrte. Zu dieser beginnenden Annäherung, die im Verlauf der Handlung schliesslich zu einer Aussöhnung mit Annas und seiner eigenen Vergangenheit führt, trägt wohl auch bei, dass Viktor nach einem ersten Herzinfarkt spürt, dass es mit seinem eigenen Leben allmählich zu Ende geht.

Ricordare Anna erzählt die Stationen einer Trauerarbeit, zu der Viktor – zunächst fast gegen seinen Willen – durch eine Art von Introspektion und eine erwachende Sensibilität, bald auch durch Gespräche mit Personen, die Anna einst nahe standen, geführt wird. Die Erinnerungen an Anna gewinnen für ihn eine zuweilen geradezu schmerzhafte physische Realität: So kann er mit seiner längst verstorbenen Tochter eine Art magische Zwiesprache führen. Darin fordert ihn Anna auf, die Dinge neu zu sehen, nicht nur das Ende im Auge zu haben, sondern das, was diesem vorangeht: das wirkliche Leben. Um das zu erfahren, was für seine Tochter das wirkliche Leben gewesen ist, entschliesst sich Viktor zu einer Fahrt nach Sizilien. Dort will er mit einstigen Bekannten und Freunden von Anna sprechen, gerät dabei aber bald selbst in den (ihrerseits fast magischen) Bann der Landschaften und Dörfer, die für Anna in der Vergangenheit zum Schicksal geworden sind. So durchmischen sich in Ricordare Anna in loser Folge drei Ebenen: die aktuelle Realität Viktors auf seiner Spurensuche nach der Vergangenheit seiner Tochter, in Rückblenden beschworene Szenen aus Annas vergangenem Leben, schliesslich die eher seltenen, in einer traumhaften Schau stattfindenden Begegnungen zwischen Viktor und Anna.

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Man spürt es Walo Deubers Film nicht nur in der historischen Verankerung von Annas Schicksal in den Achtzigerjahren an, dass ihm reale, «wahre» Ereignisse zugrunde liegen. Wie Werner Schweizer, der mit Karin Koch für die Dschoint Ventschr Filmproduktion tätige Produzent, berichtet, hatte Deuber ihm vor rund sechs Jahren unter dem Titel «Die Schlange hat nicht gelogen» ein Drehbuch vorgelegt, das die wahre Geschichte einer jungen Familie erzählte, die an Aids gestorben war. «Natürlich bewegte uns dieses Schicksal», erinnert er sich. «Wir sind die Generation der Anna, und wir kannten wie sie das Leben in der «Bewegung», die Rebellion gegen die engstirnigen und repressiven Vorstellungen der Eltern und der Gesellschaft.» Doch ein Film, überlegte er, sollte über diese persönliche Ebene hinausgehen: «Er berührt Werte und Themen, die alle Generationen umtreiben: Erkenntnis, Verantwortung, Schuld, Liebe und Tod.» So ermutigte er Walo Deuber zur Fiktionalisierung seiner Erinnerungen, sein ursprüngliches Drehbuch «auf den Kopf zu stellen». Und Deuber liess sich überzeugen, war bereit, sich der schwierigen Wechselwirkung von Wahrheit und Fiktion zu stellen. Josy Meier stand ihm dabei als mit dem Thema bestens vertraute Co-Autorin zur Seite. «Wahr ist vielleicht ganz einfach, was ich wahrgenommen habe», sagt er heute. «Wahrgenommen an Fakten, an Gefühlen, an Magie wie an kruder Wirklichkeit in der direkten Teilnahme an dieser Tragödie, die eine junge Frau und ihre ganze Familie ausgelöscht und einen Vater und Grossvater in die Verzweiflung getrieben hat.»

Wenn Walo Deuber in seinen Ausführungen zur Produktion das Wort «Magie» braucht, meint er damit nicht nur die in geduldigem Zuhören entwickelte Magie seiner Erinnerungen, sondern auch die Magie der Schauplätze, an denen sich einst die Geschichte der wahren Anna abgespielt hat. Es sei seine Idee gewesen, ihn in einer kalten Novemberwoche nach Sizilien einzuladen, erinnert sich Werner Schweizer, der mit Deuber zusammen jene Örtlichkeiten aufsuchte, an denen im Film dann Viktor seine Spurensuche aufnimmt.

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Das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion spiegelt sich recht gut in einem Satz, den die Film-Anna zu ihrem Film-Vater Viktor einmal sagt: «Fang an. Irgendwo. Nur nicht immer am Schluss. Am Schluss ist der Tod. Davor ist das Leben!» Und Walo Deuber erläutert: «In Wirklichkeit hat die wahre Anna dies nie so gesagt. Nicht zu ihrem Vater. Eher zu mir. In der kurzen Spanne von einem knappen Jahr, in der ich Anna bis zum letzten Tag begleitete, habe ich viele lange Gespräche mit ihr geführt. Über das Leben, nicht über den Tod. Sie hat mir erzählt – und in meiner Erinnerung sind es alles Liebesgeschichten gewesen, die ich von ihr gehört habe. Zu Männern einschliesslich des wahren Salvo. Zu ihren Kindern. Zum Leben! Ein Paradox fast angesichts der Bedrohung, magisch bisweilen gerade in der Bedrohung. Ich habe ihr zugehört – auch auf dem Zürichsee, wo sie nun im Film ihre Hochzeit feiert.»

Entscheidend für den Film erwies sich im weiteren Verlauf der Produktion die Besetzung der einzelnen Figuren mit geeigneten Interpreten. Dass Pippo Polina, obwohl Musiker und nicht Berufsschauspieler, aufgrund seiner Ausstrahlung die Rolle des Salvo spielen sollte, sei von Anfang an festgestanden, sagt Werner Schweizer. Nicht zuletzt hatte er den wirklichen Salvo gekannt und ihm seinerzeit sogar einen Song gewidmet («Malatesta»). Mathias Gnädinger brachte für die anspruchsvolle Rolle des Viktor nicht nur sein immenses schauspielerisches Talent mit, sondern auch eine gewisse Affinität zu Italien, hat er doch eine sizilianische Grossmutter. Für die Rolle der Anna erwies sich in künstlerischer Hinsicht Bibiana Beglau als die ideale Besetzung. Ihr Part musste für die Originalversion allerdings (mit der Stimme von Anna Kathrin Bleuler) synchronisiert werden, nachdem feststand, dass trotz eines deutschen Kamerateams und der Dreharbeiten in Italien weder ein deutscher noch ein italienischer Koproduzent gefunden werden konnte und der Film mit einem minimalen Budget in Schweizerdialekt und Italienisch gedreht werden musste. Was für die Produzenten eine Erschwernis, ist für das Schweizer Publikum indes ein Vorteil: Ricordare Anna kann als ein brillant gespielter und hervorragend inszenierter Schweizer Film wahrgenommen werden.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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