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Tout un hiver 02

Tout un hiver sans feu

Der Jura ist eine der düsteren Gegenden des Kontinents, wohl die düsterste der Schweiz, mit dumpfen weissen Wintern und einem Licht, das auch im Sommer nirgendwo hinreicht. Die diesige, bleierne Schönheit der Weiden, Hochplateaus und Canyons ist in der Fotografie von Witold Plociennik exemplarisch eingefangen. Sie macht das Statische, Widerborstige, in sich Gekehrte der Region sichtbar.

Text: Pierre Lachat / 01. Feb. 2005

Der Jura ist eine der düsteren Gegenden des Kontinents, wohl die düsterste der Schweiz, mit dumpfen weissen Wintern und einem Licht, das auch im Sommer nirgendwo hinreicht. Die diesige, bleierne Schönheit der Weiden, Hochplateaus und Canyons ist in der Fotografie von Witold Plociennik exemplarisch eingefangen. Sie macht das Statische, Widerborstige, in sich Gekehrte der Region sichtbar. Mag sein, dass es den unbelasteten Blick eines ausländischen Kameramanns (aus Polen) brauchte, um eine solche Wirkung zu erzielen.

Latente Symbolik

Schon nur kraft seiner Bilder weist Tout un hiver sans feu auf den unterschätzten Brucio nel vento von Silvio Soldini zurück, wo ähnliche Landschaften die Seelenzustände der Figuren auf eine vergleichbare Weise wiederzugeben hatten. Waren es in jener Geschichte Immigranten aus der Tschechoslowakei, so gehören diesmal, im Film von Greg Zglinski, Flüchtlinge aus dem Kosovo mit zu den Hauptfiguren. Und wo Soldini dem Roman einer französisch schreibenden Schweizerin aus Ungarn, Agota Kristof, folgte, ist jetzt der Regisseur ein Schweizer aus Polen, der lange Jahre auch im Land seiner Eltern gelebt und studiert hat.

Alle zusammen genommen, lassen diese Gegebenheiten schliessen, dass da eine gewisse latente Symbolik herrscht, indem eine Linie den Umstand des Fremdseins mit nebligen Landschaften wie denen des Juras verbindet. Eine solche Assoziation hätte, wenn schon, nicht nur für die Schweiz allein Gültigkeit, wo die Zuwanderung sowieso zu den zentralen Motiven des Filmschaffens gehört.

Tout un hiver 03

Umschichtungen der Psyche

Dabei ist Jean einer von den Hiesigen, wohlverstanden, sogar ein Bodenständiger, oder er war es, oder er wäre es noch (oder er könnte es wieder werden): ein Milchbauer auf seinem Hof, im Stall eine Handvoll Kühe, ein paar Kilometer sind’s bis dahin mit dem Geländewagen bergaufwärts von der Stadt aus. Es sind nur noch Wenige, die es ihm gleichtun und beharrlich weiter wirtschaften, doch rührt das Unglück, das ihn entfremdet, keineswegs von der prekären ökonomischen Lage her (wie zu erwarten wäre). Sondern ein Teil des Anwesens brennt nieder, in den Flammen kommt seine kleine Tochter ums Leben.

Das Feuer wurde durch eine veraltete elektrische Installation verursacht, wegen erwiesenen Eigenverschuldens wird nur der halbe Schaden vergütet. Doch mit dem Versicherungsvertreter sucht der Held keinen Streit. Zu heftig hadert er mit der eigenen Person. Jeans Zweifel und Selbstvorwürfe färben die Stimmung. Sie tun es von dem Tag an, lange nach dem Vorfall, wo alles erstarrt scheint, in ihm und um ihn herum, bis zu dem Punkt, etliche kalte Monate danach, an dem kein weiteres Zurückweichen mehr denkbar ist.

Dreieck von Figuren

Wie sich im Lauf der schmerzenden und heilenden Zeit, Woche für Woche, die psychischen Verfassungen umschichten, das versteht Zglinski eher noch ein bisschen feinfühliger zu zeigen als die Einwirkung der Szenerie. Es ist zunächst ein Prozess des Verglimmens und des vergeblichen Festhaltens am Vergangenen, der sich hinzieht, vorbei an Weihnachten und Neujahr und über einen Winter ohne (inneres) Feuer. Dann mündet er in eine allmählich wieder aufflackernde Energie und in das notwendige Eingehen auf Kommendes.

Jeans Frau, Laure, und ihre Schwester, Valérie, die beide im entscheidenden Augenblick fehlten an dem bewussten Tag (so sehr wie er selbst), erliegen der unausgesprochenen Neigung, alles ihm allein zuzuschieben. Unter dem Eindruck der alten Ressentiments und Eifersüchte, die nach dem Tod des Mädchens hochkommen, entwickeln sich entlang diesem Dreieck von Figuren die feinstgewirkten Passagen der gesamten Erzählung. Mit jedem Dazwischentreten von Jeans Schwägerin geht ein stiller Verdacht um, der nie verscheucht wird. Könnte Valérie förmlich darauf gewartet haben, dass ihm ein Leid widerfahre?

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Nachsicht und Erlösung

Der Mangel an Zuwendung seitens der eigenen Nächsten nötigt Jean, frischen Rückhalt ausser Hauses zu suchen. Er erwägt einen Verkauf des Guts und findet Arbeit als Giesser. Dann stellen sich ihm, in der Verkörperung durch die Geschwister Labinota und Kastriot, die eigenen Verhältnisse gespiegelt dar, wie von einer andern Welt und doch vertraut. Die Zuwanderer aus dem Osten, mit denen er sich in der Fabrik anfreundet, vermissen auch selber jemanden aus ihrer Mitte. Sie wissen, was das Verbrennen von Leibern und Bauten bedeutet.

So erscheinen letztlich die Trauer, die Schuld als ein Allgemeingut, im Krieg mehr als im Frieden, gewiss, aber doch nicht wirklich verschieden. Von gleicher universeller Art ist anderseits die Fähigkeit, das Auferlegte zu ertragen und das Fortwuchern des Übels zu verhindern. Über kurz oder lang lässt sich alles bloss teilen, und es gilt, eine Nachsicht zu haben, irgendwann, und eine Erlösung zu finden, um nicht von einer Gnade zu sprechen, die angenommen werden will. Wahrhaft unerträglich, weil ohne jeglichen Fluchtweg, wäre einzig, mit dem Unabänderlichen allein gelassen zu sein.

In der Nachfolge

Angefangen bei der ungebundenen christlichen Haltung verrät beides, Stoff und Stil, den Einfluss jenes asketischen Krzysztof Kieslowski, der ein Landsmann von Zglinskis Eltern war und, in Lodz, auch sein Lehrmeister. Die Nachfolge wird mit entwaffnender Offensichtlichkeit angetreten, sprich im besten Sinn des Wortes, nämlich jenseits einer Imitation und diesseits einer Hommage. Gleichwohl entwirft Tout un hiver sans feu mit der Herkunftsangabe kein Programm, sondern deklariert bloss eine solide Ausgangsposition. Weiteres wird demnach folgen müssen – anderes.

Tout un hiver 04

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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