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Garçon stupide

In einzelnen Sequenzen verwendet Baier das Stilmittel von Doppelbildern, von zwei gleichzeitig nebeneinander laufenden verschiedenen Filmen. Simultaneität, der Synchronismus von Eindrücken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, wird damit zum Schlüssel der disparaten Bilder von Garçon stupide.

Text: Gerhart Waeger / 01. Juni 2005

So «dumm», wie der Titel vermuten lässt, ist die Hauptfigur des Filmes gar nicht: Loïc, der tagsüber in einer Schokoladenfabrik arbeitet und sich nachts nach Verabredungen durchs Internet sexuellen Vergnügungen mit andern Männern hingibt, ist zwar ungebildet und lebt planlos in den Tag hinein; was ihn jedoch von wirklich dummen Menschen unterscheidet ist sein waches Interesse für Menschen und Situationen. Mit seiner Billigkamera macht er gerne Aufnahmen von seinen wechselnden Partnern, teils auch in intimen Situationen. Bei der Begegnung mit dem sich selbst spielenden Filmemacher Lionel Baier wird er selbst zum Objekt eines (mit der «subjektiven Kamera» aufgenommenen) Filmes. Doch Lionel will von ihm zu seiner Überraschung keinen Sex, sondern Informationen über sein Leben und seine Lebenseinstellung.

Seine Abenteuer erzählt Loïc Marie. Sie ist eine Freundin aus Jugendtagen, mit der er eine rein freundschaftliche Beziehung unterhält und bei der er nach seinen homosexuellen Aktivitäten übernachten darf. Die gebildete junge Frau wird für ihn zu einer Art Mutterersatz und zu einer Lehrerin. Wenn Marie gerade nicht im Zimmer ist, blättert er in den Büchern ihrer grossen Bibliothek. Im «Larousse» stösst er eines Tages auf den Begriff «Impressionismus». Ohne wirklich zu verstehen, was er damit sagt, erklärt er, er mache mit seiner Billigkamera «impressionistische Aufnahmen». Damit charakterisiert er allerdings weniger seine eigenen Schnappschüsse als die Arbeitsweise des Filmautors Lionel Baier, der sich am «filmischen Impressionismus» der Franzosen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu orientieren scheint. garçon stupide besteht in der Tat aus einer Fülle locker zusammengefügter Bildimpressionen, die einen zusammenhängenden Handlungsablauf bestenfalls im Rahmen einer Gesamtschau erkennen oder allenfalls erraten lassen. Baiers Film gerät damit zuweilen hart an die Grenze eines Experimentalfilms.

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Wie Lionel Baier erklärt, seien er und sein Mitautor Laurent Guido bereits während der Weiterentwicklung ihrer ursprünglichen Idee bei der Niederschrift des Drehbuchs und dem Versuch, den «Prinzipien eines traditionellen Spielfilms» zu folgen, an gewisse Grenzen gestossen. «Das Spannende am ursprünglichen Text war eben gerade das Stückwerkhafte und die Diskontinuität», sagt er. Schon sei er im Begriff gewesen, das Projekt im Einverständnis mit dem Produzenten Robert Boner fallen zu lassen, als er die Bekanntschaft mit Pierre Chatagny gemacht habe, der nun die Rolle von Loïc übernommen hat. Er sei von der Ähnlichkeit zwischen dem jungen Mann und der Filmfigur fasziniert gewesen. «Wir nahmen das Drehbuch wieder hervor und integrierten verschiedene Aspekte aus dem Leben von Pierre Chatagny.» Dabei drängte es sich auf, real existierende Personen ins Drehbuch einzubauen. Dies betrifft vor allem den Fussballer Rui Pedro Alves, der beim FC Bulle spielt, in der Ortschaft, aus der Loïc selber stammt. Dies wiederum gibt dem ganzen Film ein derart dokumentarisches Gewicht, dass man versucht ist, nach Vergleichen aus der Filmgeschichte zu suchen, beim «Cinéma pur» etwa, beim «Cinéma-vérité», bei Altmeister Godard oder, wie bereits erwähnt, beim «filmischen Impressionismus».

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In einzelnen Sequenzen verwendet Baier das Stilmittel von Doppelbildern, von zwei gleichzeitig nebeneinander laufenden verschiedenen Filmen (die etwa Loïcs Arbeit am Fliessband in der Fabrik und beim Sex im nächtlichen Lausanne zeigen). Simultaneität, der Synchronismus von Eindrücken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, wird damit zum Schlüssel der disparaten Bilder von Garçon stupide. Wenn Loïc zu wiederholten Malen betont, er sei schwul, um gegen Ende dann unvermittelt zu sagen, er sei es nicht mehr, ist dies also nicht das Resultat einer hinter den Kulissen ablaufenden Entwicklung, sondern ein Sowohl-Als-auch. Darauf deutet letztlich auch das «klassische» Sexualsymbol des grossen Messers hin, mit dem Loïc und Marie gemeinsam zusammengebundene Bücher aufschneiden. So wird auch verständlich, dass Loïc mit Eifersucht reagiert, als er beim Nachspionieren einen neuen Partner von Marie entdeckt. Es kommt zum Streit, bei dem Marie erklärt, sich von Loïc trennen zu wollen. Dieser kommt bei einem Autounfall, den er möglicherweise in selbstmörderischer Absicht selbst verschuldet hat, knapp mit dem Leben davon. Am Ende sieht man Loïc in einem Lunapark vor einem Riesenrad und bei dieser Gelegenheit auch erstmals kurz den Kopf des Off-Erzählers und Filmautors Lionel Baier. Dieser hat in Garçon stupide das Prinzip der Diskontinuität bis zum Ende konsequent durchgehalten. Ob es sich auf die Dauer als Stilform durchsetzen kann, wird die Zukunft weisen. Die Zeichen stehen nicht schlecht: Am «Neuen Europäischen Filmfestival» im spanischen Vitoria erhielt Baier im Mai dieses Jahres für Garçon stupide den Preis für die beste Regie. Und bereits vorher erhielt Natacha Koutchoumov den Schweizer Filmpreis 2005 als beste Nebendarstellerin.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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