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Das erbe der bergler langjahr 01

Das Erbe der Bergler

Gäbe es nur noch einen einzigen Wildheuer in den gesamten Alpen, den allerletzten seines Schlags, Das Erbe der Bergler wäre auf jeden Fall zustande gekommen. Doch hätte mit einer geringeren Zahl Darsteller gedreht werden müssen, als sich nun aufbringen liessen. Denn gemäss einer klassischen Definition gilt in der Siebten Kunst der sogenannt volkskundliche oder denkmalschützerische Film, oder wie immer die Gattung heisst, als diejenige Disziplin, deren Gegenstand sich verzehrt.

Text: Pierre Lachat / 01. Okt. 2006

Gäbe es nur noch einen einzigen Wildheuer in den gesamten Alpen, den allerletzten seines Schlags, Das Erbe der Bergler wäre auf jeden Fall zustande gekommen. Doch hätte mit einer geringeren Zahl Darsteller gedreht werden müssen, als sich nun aufbringen liessen. Denn gemäss einer klassischen Definition gilt in der Siebten Kunst der sogenannt volkskundliche oder denkmalschützerische Film, oder wie immer die Gattung heisst, als diejenige Disziplin, deren Gegenstand sich verzehrt. Und vermutlich ist damit gemeint, ihre Stoffe schwänden bis zu jenem Punkt dahin, wo eine Wiederherstellung aussichtslos wird, selbst mit den Mitteln des Museums oder der Fiktion.

Bloss, ist Das Erbe der Bergler nun wirklich ein derartiges Stück gefilmte Ethnographie im Sinne des Schulfunks? Es würde bedeuten, jemand habe es letztminütlich fertig gebracht, die Existenz einer bestimmten Technik des Töpferns, des Trockenmauerns oder eben, wie es hier der Fall ist, des Wildheuens in bewegte Bilder zu fassen, zuhanden der Nachwelt. Und das wäre wiederum als eine Übung zu werten, die ihren Zweck in sich findet: Erhaltung um des Erhaltens willen, Geschichtsschreibung ohne historischen Kontext, eine Befolgung jener Routine, die sich jeglicher Sache von etwelchem Belang annimmt, solange deren Weiterbestand gefährdet genug scheint. Das Ende darf nur gerade nahe sein, doch sollte es nach eingebrachter Dokumentation möglichst herbeieilen.

Das erbe der bergler langjahr 02

Die Totalität des umgebenden Raumes

Von einer solchen konservatorischen Tendenz lassen sich vage Spuren in Das Erbe der Bergler nachweisen. Und keine Deutung in diesem Sinn soll denen, die es suchen und benötigen, verwehrt sein. Bereichert und zufrieden dürfen sie ein weiteres Stück Geschichte der Heimat und Dokument unserer bäuerlichen Herkunft ins Gestell einordnen. Aber doch gewiss, wir sind in unserm Innersten alle geblieben wie die Wildheuer, allerdings ohne jemals gewusst zu haben, was sie denn so ganz genau bewerkstelligen auf den Matten. Erich Langjahr hat jetzt verdankenswerterweise die Allgemeinheit aufgeklärt. So war das also mit denen, oder ist es noch.

Indessen macht diese Komponente, die ihn stracks ins Archiv abschieben müsste, den Film bei weitem nicht aus. Dafür sind die Reflexe des Autors, seine umsichtige, aber nie stockende oder ausschweifende Diktion, die empirische Art und Weise des Denkens und Handelns zu dynamisch und zu wissend und wohl auch zu sehr getragen von Neugier und Humor. Kurzum, sie sind mehr auf das Lebendige im Scheintoten gerichtet und weniger auf das Scheintote im noch Lebendigen. An keiner Stelle wird erwartet oder verlangt, das Wildheuen sei weiterzubetreiben, und wäre es als folkloristische Maskerade. Noch verlautet die leiseste Klage über das absehbare Auslaufen des Brauchs. Ebensowenig wird mit dem unscharfen Begriff des Ursprünglichen oder Echten argumentiert, dank dessen sich alles behaupten und nichts beweisen lässt.

Stattdessen holt Das Erbe der Bergler zu einer sehr viel weitergehenden Beschreibung aus, in der das Wildheuen als Gegebenheit der historischen voralpinen Agrikultur das Zentrum hält, doch ohne auch das Umfeld oder die Peripherie zu besetzen. Denn Langjahr rückt in seinen besten Filmen nie nur Fakten oder Individuen in den Sucher und in die Montage, sondern er kleidet sie in die Totalität des umgebenden Raumes und des herabfallenden Lichtes ein. Da kann es einem schon vorkommen, als geriete der Ort des Geschehens, jenes innerschweizerische Muotathal und seine Umgebung, zum eigentlichen Hauptdarsteller: mit den jähen Wänden, die den Grund eingrenzen, und mit dem langen Schatten, den sie werfen.

Das erbe der bergler langjahr 04

Die schier unfassbare Masse des Planeten

Indem das Auge den Verrichtungen und Vorgängen folgt, schielt es in einem fort nach allem, was sich ringsum auftut: daneben und dahinter, darunter und darüber. Wie hoch ist denn nun diese Alp gelegen, und wie weit ist es zu welchem Gipfel; bis wohin vermag der Blick auf- oder abwärts zu reichen? Nur ein paar wenige Szenen orientieren sich nach der Waagrechten des Talbodens, die grosse Mehrheit folgt der Senkrechten der Hänge und Halden. Und erst die Gesamtheit der Bilder und Töne vermag mit letzter Plastizität zu veranschaulichen, was es mit dem Wildheuen physisch für eine Bewandtnis hat: ausgedrückt in Einheiten unermüdlich, ohne jede maschinelle Verstärkung, umgesetzter Muskelkraft.

Das Erbe der Bergler steigert sich so zum Poem einer Auseinandersetzung zwischen der Natur, die weniger üppig hergibt, als sie gedeihen lässt, und dem Menschen, der ihr auch das, womit sie gern geizt, noch abnimmt. Die Komposition nach der Vertikalen hin aktiviert jene Schwerkraft, der ein jeder Halm des wild auf den Bergflanken wachsenden Heus gleichsam einzeln entrissen sein will. Ohne eisenbeschlagene Holzschuhe lässt sich kein Schritt tun, sie müssen erst massgeschnitzt sein. Denn nur sie allein erlauben es, in steilem Gelände zu mähen, das heisst, der Gravitation für die Dauer eines Schnittgangs ein Schnippchen zu schlagen. Und es ist, als wollte der Wildheuer seine begrenzten Siege über die schier unfassbare Masse des Planeten, die ihn zu Boden bannt oder schleudert, auch noch feiern. Denn die nämlichen Schuhe, auf denen alles fusst, dienen später sogar dem Tanzen, welches ja ein regelrechtes Überwinden der bald hinderlichen, bald stützenden Erdhaftung simulieren will.

Auf diese Weise entwindet sich Langjahr am Ende all dessen, was brauchtümelnd, unterrichtsgerecht oder frohbotschaftlich aussehen könnte. Niemand wird gezwungen, wissen zu wollen, worin das Handwerk des Wildheuers besteht. Und gäbe es nur noch einen von ihnen und, nächstens einmal, keinen mehr.

Das erbe der bergler langjahr 09

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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