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Mon frère se marie

Die Feststellung «Mein Bruder heiratet» klingt an sich relativ unspektakulär. Fungiert der Satz jedoch als Filmtitel einer Familienkomödie, lässt er Ungemach erahnen. Und so löst eine bevorstehende Hochzeit im ersten Spielfilm des Westschweizers Jean-Stéphane Bron denn auch allerhand familiäre Turbulenzen aus.

Text: René Müller / 01. Nov. 2006

Die Feststellung «Mein Bruder heiratet» klingt an sich relativ unspektakulär. Fungiert der Satz jedoch als Filmtitel einer Familienkomödie, lässt er Ungemach erahnen. Und so löst eine bevorstehende Hochzeit im ersten Spielfilm des Westschweizers Jean-Stéphane Bron denn auch allerhand familiäre Turbulenzen aus: Zur Eheschliessung des vietnamesischen Adoptivsohnes Vinh kündigen sich die leibliche Mutter und ein Onkel aus Vietnam an. Dieser überraschende Besuch bringt die Familie Depierraz ins Rotieren. Früher glänzte sie als Vorzeigefamilie, heute sind die Eltern geschieden und zerstritten. Den Verwandten Vinhs zuliebe will man dennoch den Schein wahren und die familiäre Idylle von einst in Szene setzen. Die «Contenance» zu bewahren, ist dabei oberstes Ziel, und selbstredend lebt die Komödie davon, dass gerade dies den Figuren nur leidlich gelingen mag.

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Teils Familiendrama, teils Multikultikomödie orientiert sich der Film an Arthouse-Schlagern wie Bend it Like Beckham, My Big Fat Greek Wedding oder East is East. Die Schweizer Komödie lebt so auch von brav durchexerzierten dramaturgischen und kulturellen Klischees. Gleichwohl versucht Bron, der mit Mais im Bundeshuus einen cleveren und unterhaltenden Coup gelandet hat, der filmischen Stromlinienförmigkeit zu trotzen. Dies zeigt sich besonders im Erzählstil. Mon frère se marie beginnt pseudodokumentarisch: Mit vertraulichen Anweisungen werden die Familienmitglieder vom Bruder und Amateurfilmer Jacques einzeln vor der Kamera positioniert und über die familiäre Befindlichkeit befragt. Hier klärt sich die Bedeutung des Titels: Mon frère se marie wird – zumindest zu Beginn – aus der Perspektive des Bruders Jacques erzählt. Er filme nur für sich und wolle damit nicht versuchen, den familiären Scherbenhaufen zu kitten, versichert der Hobbyfilmer aus dem Off. Die verzwickte Familienkonstellation wird durch diesen pseudodokumentarischen Stil auf erfrischende Weise eingeführt. Was dramaturgisch so geschickt eingefädelt ist, verliert sich jedoch bald in einer allzu konventionellen Erzählweise. Bron geizt im weiteren Verlauf nicht mit Trümpfen aus dem Dramaturgiefundus des Lustspiels. So steht der Besuch aus Vietnam früher als geplant vor der Türe. Die stoische Mutter des Bräutigams und der wirblige Onkel, der übrigens besser Deutsch spricht als die gesamte Waadtländer Familie, beäugen die nervösen Geschehnisse im Hause Depierraz ziemlich erstaunt. Die ungewohnte Sachlage sorgt für viel Situationskomik, denn die Figuren müssen sich gleich an zwei Fronten behaupten: Gegenüber dem vietnamesischen Besuch gilt es, die Fassade der heilen Familie aufrechtzuerhalten, und innerhalb der Familie Depierraz möchte man die zwischenmenschliche Distanz möglichst unbeeinträchtigt belassen. Aurore Clément brilliert dabei als fragile Adoptivmutter, die seit der Trennung von ihrem Mann auf Identitätssuche ist und sich dafür mit Feng-Shui und Gospelchor stärkt. Ihre frühere Hausfrauenrolle verschmäht sie, und mit ihrem Exmann nochmal im gleichen Zimmer zu schlafen, kommt partout nicht in Frage. Angesichts des quirligen Onkels, der bis tief in die Nacht vor dem Fernseher sitzt, kann sie sich trotz ziemlich burlesken Manövern nicht unentdeckt in einem anderen Zimmer verstecken. Ihr launischer Exmann versucht derweil unbeholfen, Nonchalance zu markieren.

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Konsterniert muss sich die Sippe alsbald eingestehen, dass eine Hirschledercouch oder eine Fotografie vom Papst eben noch keine intakte Familie ausmachen. Für mehr Zusammenhalt sorgt da eher der in der Eile nur ungenügend zusammengezimmerte Esstisch; ohne das gemeinsame Stützen des Tisches würde dieser nämlich vor den Augen des speisenden Besuchs zusammenbrechen. So entwickelt sich langsam eine feine Solidarität zwischen den Figuren, und die verhärteten Fronten scheinen sich etwas aufzuweichen. Es sind die kleinen Veränderungen in der zwischenmenschlichen Chemie, die in Mon frère se marie zählen. Das Ensemble gestaltet diese leichten Aufheiterungen innerhalb der zerrütteten Familie auch mit viel Sorgfalt. Die beiden vietnamesischen Figuren indes dienen lediglich als Staffage, um die Schweizer Familie zu kontrastieren. Auch über den Adoptivsohn Vinh würde man gerne mehr erfahren, leider bleibt auch diese Figur in der allgemeinen Aufgeregtheit ziemlich blass. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Amateurschauspieler Quoc Dung Nguyen quasi sich selbst spielt. Er kam mit drei Jahren als Flüchtling in die Schweiz und wurde von einer Schweizer Familie aufgenommen. Dass es letzten Endes nicht zum erwarteten familiären Showdown kommt und auch ein altmodisches Loblied auf Familienwerte ausbleibt, ist immerhin eine Überraschung.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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