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Die kunst der xxx 04

Die Kunst der exakten Phantasie

Anders als die meisten seiner Berufskollegen weigert sich der Fotograf Heini Stucki, Details seiner Aufnahmen zu vergrössern. «Ich mache nie Ausschnitte», sagt er. «Ich mache immer das ganze Bild, so wie ich es aufnehme. Das ist auch das Interessante für mich, mit welcher Geschwindigkeit man etwas in sich hat und etwas erfassen und in diesem Viereck arrangieren kann.

Text: Gerhart Waeger / 01. Sep. 2006

Anders als die meisten seiner Berufskollegen weigert sich der Fotograf Heini Stucki, Details seiner Aufnahmen zu vergrössern. «Ich mache nie Ausschnitte», sagt er. «Ich mache immer das ganze Bild, so wie ich es aufnehme. Das ist auch das Interessante für mich, mit welcher Geschwindigkeit man etwas in sich hat und etwas erfassen und in diesem Viereck arrangieren kann. Und das in einer 500stel Sekunde … Für mich ist ein gutes Foto wie ein kleiner Kosmos, in dem Kräfte gegeneinander antreten, negative und positive, Licht und Dunkel.»

Im Bieler Filmemacher Beat Borter fand Stucki einen Porträtisten, der in etwa die gleiche «Wellenlänge» hatte wie er. Borter, der 1998/99 mit La vida es filmar ein Künstlerporträt des kubanischen Filmemachers Fernando Pérez und mit Bielbienne01–02 eine Dokumentation über die Vorbereitungen der Stadt Biel auf die Expo02 gedreht hatte, erklärt über seine Arbeit mit und über Heini Stucki: «Beabsichtigt ist kein traditionelles Künstlerporträt: Filmteam und Fotograf sind zusammen auf einer Entdeckungsreise in dessen Welt, beziehungsweise dessen Kosmos, mit ungewisser Destination. Das Resultat ist ein Wechselbad von Gefühlen, Kontrasten, schrägen Situationen, spannenden Schauplätzen, von Distanz und Nähe, schwarz-weiss Fotos und farbigen Filmbildern: «70 minutes de bonheut et d’émotions», wie eine Westschweizer Zeitung treffend feststellte.» Und er fügt bei: «Heini Stucki und ich sind gleich alt, in der gleichen Gegend aufgewachsen – und leben und arbeiten auch heute noch dort. Damit lag es auf der Hand, die Auseinandersetzung mit dieser, unserer Provinzheimat zum Thema zu machen.»

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Borter fand jeweils spontan zu den Aussagen Heini Stuckis die passenden Bilder. So beschwört er etwa die weiten Landschaften des «Grossen Mooses» bei Ins, die Heini Stucki wesentlich geprägt haben und deren Zerstörung durch eine intensive Landwirtschaft er nicht nur mit seinen frühen Dokumentaraufnahmen zu verhindern versuchte: Als sich im April 2005 ein grosser Demonstrationszug gegen die Errichtung einer Chemiefabrik bei Galmiz formierte, schloss er sich diesem an. Es gehört zu den besonderen Qualitäten von Borters Film, dass er Heini Stucki spontan und ausgiebig zu Wort kommen lässt, ohne dabei ins Schema eines traditionellen «Interviewfilms» zu verfallen. Der Porträtierte wird hier zum aktiven Mitgestalter des ihm gewidmeten Films.

Den äusseren Rahmen von Borters Film bildet Stuckis Biografie. Aufgewachsen ist er in einem von einem verwilderten Garten umgebenen Berner Patrizierhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem er seit jungen Jahren über ein «Ablagerungszimmer» verfügen durfte. «Beim Öffnen der Türe dieses Zimmers», berichtet Borter, «versperrt ein grosser Schrank mit Spiegeltüre weitgehend den Blick und den Eintritt. Auszumachen ist Stukkaturwerk an der Decke und altes Täfer an den Wänden. Sonst nur haufenweise, schachtelweise, kistenweise Material. Texte, Publikationen, Plakate – und vor allem Fotos, Abzüge, Dias, Negative. Ein Stapel Fotos war wohl zu hoch und ist umgestürzt … Als wir das Zimmer zusammen betreten, beginnt Stucki gleich darin zu stöbern – und zu erzählen. Von der Schmetterlingssammlung des Jugendlichen, von im Lauf der Zeit in den Feldern um Ins aufgehobenen urgeschichtlichen Fundgegenständen, vom Schädel, der beim Bau der Kläranlage auf einem Römer Friedhof zertrümmert wurde und nun, geflickt, hier liegt … Die gelagerten Fotos und Gegenstände nehmen in Stuckis Händen und durch seine Geschichten Gestalt an, Vergangenheit wird lebendig. Zunächst seine persönliche: hier steckt ein guter Teil seines Lebens und seines Werkes. Darüber hinaus aber auch die Geschichte des Dorfes, des Seelandes, der Menschen, die hier wohnen. Dieses Ablagerungszimmer, das spüre ich sogleich, hat auch mit mir, mit uns, zu tun.»

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Und Heini Stucki nimmt den Faden auf, lässt seine Erinnerungen sprechen: «Das «Grosse Moos» war mein Jugend-Indianerland», erzählt er. «Hier ging ich tagelang fischen und Schmetterlinge fangen, ich fand Tierschädel in den Mooswäldchen. Das Leben in den Moostümpeln, das war mein Jugendparadies.» Doch mit den Güterzusammenlegungen fand dieses Paradies ein Ende. Bäume wurden gefällt, Moosgräben zugeschüttet, neue ausgebaggert und ausbetoniert. «Das war grauenhaft. Wie wenn ein guter Freund ermordet wird und man einfach dastünde und sagte: Ja, jetzt ist er eben tot. Das empörte mich und ich musste wirklich etwas dagegen tun …» In Stuckis Erinnerungen gibt es allerdings auch positive Identifikationsfiguren, etwa den «Feldmauser» und den «Dorfmauser». Heiri, der erstere, den Stucki «wie eine Verkörperung des «Grossen Mooses»» in Erinnerung hat, fing für eine Flasche Most und ein kleines Entgelt Mäuse für die Bauern, Hans, der andere, führte gewissenhaft Buch und erhielt von der Gemeinde einen festen Grundlohn sowie für jede Maus noch etwa einen Franken. «Beide Mausfänger zusammen ergaben gerade meinen Namen, Hans und Heiri. Vielleicht habe ich von beiden etwas.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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