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Marmorera 03

Marmorera

Text: Stefan Volk / 01. Jan. 2007

Ein Schweizer Mysteryfilm nach amerikanischem Vorbild – kann das funktionieren? Der Zürcher Filmemacher Markus Fischer hat sich in die Domäne Hollywoods gewagt und mit kleinem Budget (3,3 Millionen Franken) versucht, dem grossen Effektkino Paroli zu bieten. Milde gestimmt von dieser David-Attacke auf den filmischen Goliath lässt sich Marmorera attestieren, dass er sich recht passabel aus der Affäre zieht. Mehr allerdings nicht. Der Film geht mit Anstand unter. Aber er geht unter.

Am Schweizer Schauplatz liegt das nicht. Mit dem Dorf Marmorera im Bündnerland haben Markus Fischer sowie Roman- und Drehbuchautor Dominik Bernet nicht nur ein geeignetes Äquivalent für die Hinterwäldlerszenerien des US-Kinos gefunden, sondern diesem noch eine schwarzromantische Komponente hinzugefügt. Das 1954 im Stausee versunkene alte Marmorera bildet den Ausgangspunkt für eine moderne Undine-Geschichte. Und das abgeschiedene neue Dorf mit seinen schrulligen, undurchsichtigen Bewohnern liefert die passende Folie für einen übersinnlichen Thriller.

Der junge, erfolgreiche Psychiater Simon Cavegn reist mit seiner deutschen Frau Paula von Zürich nach Marmorera, an den Ort seiner Kindheit. Das Paar ist glücklich, die Landschaft schön. Aber die Bedrohung lässt nicht lange auf sich warten. Aus dem Nichts springt ein Eichhörnchen vors Auto und verschwindet spurlos. Über den Friedhof von Marmorera schleicht ein unheimlicher Mann. Simon kann nur noch den Tod einer jungen Frau feststellen, die in einem kleinen Boot ans Ufer treibt. Doch im Leichenwagen kehrt sie wie durch ein Wunder ins Leben zurück. Die Namenlose gibt den Ärzten noch manches Rätsel auf. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Zürcher Krankenhaus wird sie ausgerechnet in die psychiatrische Klinik verlegt, in der Simon arbeitet. Sie ist stumm, verhält sich merkwürdig, isst – nein frisst – päckchenweise gefrorene Fischstäbchen.

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Unaufhaltsam zieht die schweigsame Patientin, der Simon bald den Namen «Julia» gibt (so heisst auch der Bach, der den Marmorerasee speist), den Psychiater in ihren Bann. Immer mehr verliert er die Kontrolle. Unheimliche Visionen überkommen ihn. Gleichzeitig ereignet sich eine Serie unerklärlicher Todesfälle. Einem aus Marmorera stammenden Patienten platzt die Blase. Auch die Dorfbewohner werden einer nach dem anderen von bizarren Krankheiten oder Unfällen dahingerafft. Auf geheimnisvolle Weise scheinen die Tode mit dem Bau des Staudamms in der Vergangenheit in Verbindung zu stehen.

Mit diesem Handlungsgerüst sind die Voraussetzungen für einen spannenden Mysterystreifen durchaus gegeben. Bernet und Fischer gelingt es jedoch nicht, die Story mit Leben zu füllen. Zwar hält Jörg Schmitt Reitweins Kamera bei der blutigen Arbeit am Obduktionstisch fast schon reisserisch drauf. An dramaturgischem Fleisch aber fehlt es. Stattdessen hört man an den entscheidenden Wendepunkten die Plot-Gelenke förmlich knarren.

Leicht lässt sich durchschauen, weshalb das Drehbuch weder Simons Frau noch seine Kollegen oder seinen Chef einen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen Julias und den Toden in Marmorera herstellen lässt. Nicht etwa, weil das zu den Charakteren passt, sondern einfach, um Simon innerhalb der Geschichte zu isolieren. Handlungslogisch ist ihr Verhalten kaum nachvollziehbar. Zwar sieht Simon Bilder und hört Stimmen, die ausser ihm niemand wahrnimmt. Das aber erklärt nicht, weshalb die Leiber der Toten voller Wasser sind, oder wieso eines der Opfer das zwischenzeitlich verschwundene Kleid, das Julia an dem Tag trug, als Simon sie im Stausee entdeckte, aus seinem Magen hervorwürgt. Ausser Simon scheinen solche Ungereimtheiten niemanden zu stören. Dass Julia immer wieder auf rätselhafte Weise aus der geschlossenen Abteilung entkommt, dass sie übermenschlich lange unter Wasser bleiben kann oder dass die Menschen, deren Tod Simon voraussieht, tatsächlich bald darauf sterben, all das nimmt das Umfeld Simons mit absurder Gleichmut zur Kenntnis.

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Derart eklatante Mängel im Erzählaufbau versperren dem Zuschauer den Weg in die Geschichte. Statt mitzufühlen, sich mitzugruseln, bleibt man gelangweilt aussen vor. Die Schauspieler können diese Distanz nicht überbrücken. Sie geben sich Mühe. Und Anatole Taubman gelingt es ganz gut, Simons seelischem Absturz Konturen zu verleihen. Auch Eva Dewaele gibt die sinnlich-animalische Sirene recht überzeugend. Dennoch agieren beide in einem psychologisch hanebüchenen Kontext auf verlorenem Posten. Kaum einmal lassen die plump arrangierten Kinofiguren mögliche Menschen erahnen.

Der Versuch, aus US-amerikanischen Genreversatzstücken einen Schweizer Genrefilm zu basteln, geht nicht auf, weil die Einzelteile kein Ganzes ergeben. Dass die Spezialeffekte eher dürftig ausfallen, wiegt gar nicht einmal so schwer. Störender sind die vielen kleinen Unstimmigkeiten. Als beispielsweise Simon und seine Frau Paula am Anfang des Films ein Foto von sich machen, sieht man im Hintergrund das Boot treiben, auf dem Simon kurz darauf Julias starren Körper finden wird. Jeder, der das Mysterygenre kennt, ahnt, dass dieses Bild später noch einmal wiederkehren, dass Simon etwas darauf entdecken wird – und so kommt es tatsächlich. Doch die Entdeckung verpufft. Simon macht sie zu einem Zeitpunkt, zu dem das, was er auf dem Foto sieht, längst nicht mehr überrascht. Die Entdeckung verleiht der Handlung keine neue Richtung mehr. Und genau wie diese Einstellung schrammt letztlich der gesamte Film an den Gesetzen des Genres vorbei, das er anvisiert.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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