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La vraie vie 02

La vraie vie est ailleurs

Bahnhöfe eignen sich wunderbar, um Geschichten des Aufbruchs zu inszenieren. Auch Frédéric Choffat macht sich in seinem ersten langen Spielfilm diese Atmosphäre zu eigen.

Text: Nicole Hess / 01. Aug. 2007

Bahnhöfe eignen sich wunderbar, um Geschichten des Aufbruchs zu inszenieren. Es sind Orte des Übergangs, der Sehnsucht, der Mobilität. Auch Frédéric Choffat macht sich in seinem ersten langen Spielfilm diese Atmosphäre zu eigen. Mit der Handkamera fängt er zu Beginn von La vraie vie est ailleurs die Abfahrt seiner drei Protagonisten am Bahnhof von Genf ein. Ein junger Mann, der eben Vater geworden ist, bricht überstürzt zu seiner Freundin nach Berlin auf. Ein anderer, dem das Portemonnaie gestohlen wurde, hastet auf den Zug nach Marseille. Und eine junge Frau, die den Schritt in eine unbekannte Zukunft in Neapel wagt, verabschiedet sich von ihren Freundinnen. Die flüchtigen Blicke und Gesten, welche die Kamera einfängt, widerspiegeln dabei sehr schön den nervösen Herzschlag des Unortes.

La vraie vie 03

Frédéric Choffat nimmt in La vraie vie est ailleurs seinen Kurzfilm Genève–Marseille von 2003 wieder auf. In drei parallel erzählten Episoden variiert er das Thema der unerwarteten Begegnungen, intimen Huis-clos-Situationen und Entscheidungsmomente und entwickelt es genremässig in unterschiedliche Richtungen. Während der eine Protagonist – die Figuren der voneinander unabhängigen Geschichten bleiben alle namenlos – auf der Reise nach Südfrankreich die Bekanntschaft einer Wissenschafterin macht, die ihm scheinbar unkompliziert das fehlende Zugbillet kauft, bleibt der andere im nächtlich-regnerischen Dortmund stecken. Im fast menschenleeren Wartsaal, der an die Bühnenbilder Anna Viebrocks erinnert, trifft er auf ein schwer fassbares weibliches Wesen aus dem europäischen Osten. Im Schlafwagenabteil nach Neapel schliesslich kommt es zur absurden Begleitung der auswanderungswilligen Seconda durch den Schaffner, der seinen Schutzauftrag etwas zu wörtlich nimmt. Dicht neben- und hintereinander vereint der Regisseur so, in Abwandlung des Grundmusters, Drama, Liebesgeschichte und Komödie zu einem vitalen Dreiklang über menschliche Beziehungen.

La vraie vie 01

Um die Jahrtausendwende haben in der Romandie junge Filmschaffende die Dögmeli-Bewegung ins Leben gerufen, die in Anlehnung an das dänische Erfolgsmodell den billigen, schnell gedrehten und an der Realität inspirierten Film proklamierten; Vincent Pluss’ Familiendrama On dirait le sud (2002) steht stellvertretend für die schwungvolle Aktion. Auch wenn sich die Bewegung in der Zwischenzeit aufgelöst hat, scheint Choffats Film von der belebenden Tradition inspiriert. Vor allem in der Marseille-Episode, die zur Hauptsache in der Nacht und in geschlossenen Räumen spielt und wie der ganze Film ohne Drehbuch realisiert wurde, gelingen Szenen von grosser emotionaler Intensität. Während sich der zwielichtige Passagier im schwarzen Anzug auf das Sofa des Marseiller Hotelzimmers bettet, nestelt die angespannte Wissenschafterin im Seidennachthemd so lange in den Unterlagen für ein Referat, bis er erwacht, sich eine Zigarette anzündet, sie zum theatralischen Ausbruch – und schliesslich zur erotischen Entspannung bringt; Beziehungen sind Tauschhändel, auch das lehrt uns die höchst vergnügliche Episode.

Gegenüber der dokumentarisch gefärbten Ausgangsgeschichte erscheint das Dortmunder Abenteuer etwas klischeehaft; die Rumänin ist zu offensichtlich auf den Typus der feurigen, verführerischen Fahrenden hin angelegt. Überraschend und unkonventionell kommt dagegen die Episode im Coupé der Trenitalia daher. Nach einer Nacht der unerwarteten Wendungen und Verunsicherungen sind am Morgen danach alle Protagonisten – im wörtlichen und übertragenen Sinn – an den Ort ihrer Bestimmung unterwegs.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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