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Giorni e nuvole

Je reicher gehäuft das fiktive Gut angeblich auf der Strasse liegt, während es sich über Nacht real in Nichts auflösen kann, umso raschere Fortschritte macht die Entwertung aller Werte. In den einstmals materiell gesegneten, scheinbar so seligen Regionen des Planeten hat sich die Mehrheit der Bewohner einer regelrechten Läuterung der Gehirne unterworfen.

Text: Pierre Lachat / 05. Mär. 2008

Mehr denn je in den vergangenen dreissig Jahren zählt einzig und allein der Zaster. Je reicher gehäuft das fiktive Gut angeblich auf der Strasse liegt, während es sich über Nacht real in Nichts auflösen kann, umso raschere Fortschritte macht die Entwertung aller Werte. In den einstmals materiell gesegneten, scheinbar so seligen Regionen des Planeten hat sich die Mehrheit der Bewohner einer regelrechten Läuterung der Gehirne unterworfen. Gleichsam hinausgespült scheint jeder Gedanke, es wäre denn der eine an die Währung oder ihre Äquivalente.

Kinostücke aus jüngster Zeit, die diese desperate neueste Entwicklung im Westen sozusagen seherisch dramatisieren, sind Cassandra’s Dream von Woody Allen und Giorni e nuvole von Silvio Soldini. Die Prophetin nahenden Unheils, Kassandra, animiert den einen Titel. Heraufziehende Wolken treiben dräuend durch den andern. «Ich sehe Katastrophen, ich sehe Desaster, schlimmer, ich sehe Anwälte.» Diese kokette Zeile legte der antiken Schwarzseherin schon einer von Woodys früheren Filmen in den Mund.

Silvio Soldini, der Mailänder aus dem Tessin, führt einen Jedermann vor Augen, der sich sein Dasein ganz erträglich eingerichtet hätte, einmal nur von den Bewegungen auf seinen Konten her betrachtet. Wäre da nicht jenes fatale Eigenleben aller Guthaben und Besitztümer, das den Vermögenden, Verdienenden und Verwaltern oft üble Streiche spielt. Indessen kommen Michele seine peinlichst genau abgerechneten und doch imaginären irdischen Schätze nicht etwa sämtliche auf einmal abhanden. Ein Donnerschlag von solcher Art liesse sich womöglich leichter verkraften als das, was ihm dann tatsächlich unterkommt.

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Die Pfeiler seines komfortabeln Auskommens brechen einer nach dem andern weg. Es beginnt mit dem Sitz im Aufsichtsrat und reicht über Haus, Boot und Auto bis hin zur Gattin. Elsa macht nach ehelichem Handgemenge Anstalten, einen Schwerenöter vorzulassen. Die schon fast erwachsene Tochter, Alice, zieht endgültig weg, und zwar, begreiflicherweise, unter dem unsanften Antrieb der letzten väterlichen Ohrfeige ihres Lebens. Kraft der nur allmählichen Erosion der Bestände kann noch eine verderblich lange Weile die Einbildung vorherrschen, es liessen sich sämtliche Rückschläge wieder wettmachen, dank Erspartem, Verkauf, Umzug, Darlehen, Bewerbung, Prekär-Job, Sparprogramm, Verzicht auf das eine oder das andere.

Immerhin ein promovierter Dottore, steht Michele im Supermarkt, wägt eine Flasche Tomatenmark in der Hand und entschliesst sich gegen den Ladendiebstahl, der wohl erstmals überhaupt während mehr als vierzig Jahren seine Erwägungen kreuzt. In den oberen Stockwerken oder auf dem Dach des einen oder andern Hochhauses schwenkt sein Blick mehr als einmal tastend nach den Lücken hin, durch die es sich bequem ins Leere springen liesse. Aber der Gedanke denkt sich vorerst ganz ungewollt in ihm drin. Persönlich sieht sich der Held noch nicht wirklich davon erfasst. Noch fasst er ihn. Die Feinfühligkeit von Soldinis Inszenierung erreicht in solchen Szenen ihre besten Momente. Michele fragt sich, ob er noch zu überblicken vermöge, was getan oder gelassen sein müsste.

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In Der Letzte Mann rettete ein verirrtes Lotterielos den altershalber zum Aufwartemann herabgewürdigten und seiner prächtigen Uniform entkleideten vormaligen Portier eines Berliner Luxushotels. Murnau verstand den ganz und gar schauderhaften, schamlos aufgesetzten Nachschluss jenes Klassikers bewusst als Parodie auf den damals, 1924, schon branchenweit grassierenden Zwang zum Happy End. Die Filmemacher wähnten, den Sehnsüchten des Publikums zu entsprechen. Sie taten es unter dem Einfluss einer fixen Idee, die wohl kaum je aus der Welt zu schaffen sein wird.

Auf Michele und die Seinen regnet kein unerwartetes Manna vom Himmel herab. Dass wieder steigen muss, was fällt, ist allenfalls ein verlässlicher Grundsatz der Gewässerkunde. Die alltägliche Erfahrung zeigt das Umgekehrte, das auch schon einschlägig besungen worden ist: what goes up, must come down. Erst hat die Finanzkrise mit ihrer versiegenden Liquidität den besetzten, in Geiselhaft genommenen Seelen und Gemütern wieder freien Lauf zu gewähren, damit die ausgetrockneten Gehirne wieder zu Wasser kommen. Der wacklige, illusionäre Charakter zeitlicher Güter muss sich den Okkupierten restlos eröffnen.

Nichts und niemand ist imstand zu helfen oder zu retten, es wäre denn das Vertrauen in die eigene Überlebenskraft. Es wird nicht länger zugewartet, bis jemand einen ersten Schimmer davon hat, wie denn die Lage zu meistern, der Einbruch aufzufangen wäre. Die sozio-ökonomischen Systeme, seien sie nun vergesellschaftet oder privatisiert, sind ausserstande, auch nur einen einzigen Wert neu aufzuwerten. Sie betreiben und verwalten bloss den Ausverkauf der bestehenden. Michele und Elsa, seine Frau, liegen am Boden, und zwar tun sie es so sehr im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Sie schauen an die Decke empor zu einer soeben aus dem Spätmittelalter in die Gegenwart zurückgeholten Szene. Die Kamera zeigt, hoch über ihnen, mit Bedacht ein Fresko, das über Jahrhunderte verdeckt war und das nun freigelegt worden ist. Um wieder ins Bild zu kommen, heisst das, wäre eine Auffrischung vonnöten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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