Filmbulletin Print Logo
Pb ytl 10

You, the Living

Ein trauriges Mädchen, das von der Hochzeit mit einem unerreichbaren Rockstar träumt, eine Alkoholikerin, die sich von niemandem verstanden fühlt und im Park einen rotzigen Blues anstimmt, und eine Lehrerin, die vor ihrer versammelten Klasse in Tränen ausbricht. Die Stadt ist in ein fahles Licht gehüllt, hier herrscht immer Morgen- oder Abenddämmerung.

Text: Sarah Stähli / 05. Mär. 2008

Ein trauriges Mädchen, das von der Hochzeit mit einem unerreichbaren Rockstar träumt, eine Alkoholikerin, die sich von niemandem verstanden fühlt und im Park einen rotzigen Blues anstimmt, und eine Lehrerin, die vor ihrer versammelten Klasse in Tränen ausbricht. Die Stadt ist in ein fahles Licht gehüllt, hier herrscht immer Morgen- oder Abenddämmerung. Willkommen in der trostlosen und phantastischen Welt von Roy Andersson.

Eine Inhaltsangabe erübrigt sich bei den Filmen des eigenwilligen schwedischen Regisseurs. Er erzählt keine durchgehende Geschichte, sondern verwebt kurze Episoden – in langen Einstellungen – miteinander. Wie bereits in seinem letzten Langspielfilm Songs from the Second Floor erlaubt sein neuestes Werk erneut wundersame Einblicke in den Alltag gewöhnlicher Menschen.

Der vierundsechzigjährige Regisseur ist ursprünglich Werbefilmer. Doch wer jetzt an Hochglanzbilder und träfe Pointen denkt, liegt völlig falsch. Andersson kreiert sowohl in seinen Werbe- wie auch in seinen Kinofilmen obskure Parallelwelten und rückt die Skurrilitäten des täglichen Lebens in den Vordergrund.

Am Anfang des visuell grandiosen Filmes steht ein Zitat von Goethe: «Erfreu dich, o Lebender, dieses Ortes, noch liebestrunken … ehe Lethe, der Fluss der Toten, deinen fliehenden Fuss benetzt!» Lethe ist in der griechischen Mythologie ein Fluss in der Unterwelt, der Fluss des Vergessens. Anderssons Werk erzählt von den Lebenden, die sich mit aller Kraft an ihrem Leben festhalten, wie an einem Glas Wodka, sei es noch so leer und voller unerfüllter Erwartungen. Obwohl “lebendig” eigentlich die falsche Bezeichnung für die bleichen, grauen Gestalten ist, die sich durch den Film schleppen. Wie blutleere Zombies wandeln sie durch die Strassen und sind in ihrer Verzweiflung doch sehr menschlich.

Pb ytl 15

Er stütze sich bei seiner Arbeit nie auf ein Drehbuch im klassischen Sinne, sondern nutze eine thematische Linie, ein philosophisches Konzept oder eine besondere Atmosphäre als Grundlage, erklärt der Regisseur. You, the Living erzähle vom Menschen, sagt er weiter «von seiner Grossartigkeit und seinem Elend, von seinen Freuden und Lasten, von seiner Zuversicht und seinen Ängsten. Ein Mensch, über den wir uns lustig machen und der uns gleichzeitig auch zum Weinen bringt. Es ist dies eine tragische Komödie oder eine komische Tragödie, dessen Subjekt wir selbst sind.»

Tatsächlich sind bei Andersson Humor und Melancholie unglaublich nahe beieinander. Absurde Situationskomik löst sich ab mit Bildern von grosser Einsamkeit. Und gerade in seiner Traurigkeit ist der Film oftmals ausgesprochen witzig. Ein Feierabendgespräch zwischen einem Ehepaar verläuft dann in etwa so: «Was machst du?» – «Ich stehe auf dem Balkon.» – «An was denkst du?» – «An nichts.» – «Denkst du an mich?» «Nein.» – «Du denkst nie an mich». Und ein überarbeiteter, desillusionierter Psychiater mit einem überfüllten Wartezimmer voller hilfsbedürftiger Patienten, sagt verzweifelt in die Kamera: «Die Menschen sind böse und sie wollen, dass ich sie glücklich mache.» In der lokalen Bar, in der die Säufer und die Verlassenen am Tresen hängen, ist immer letzte Runde. «Heute ist nicht mein Tag», meint ein unfähiger Teppichhändler einmal kleinlaut zu seinen Kunden. Dieses Gefühl scheint in dieser Stadt jeder zu kennen: «Heute ist nicht mein Tag». «Keiner versteht mich», klagen die Bewohner immer wieder. Andersson zeigt eine Gesellschaft, in der das gegenseitige Verständnis fehlt. Alles ist irgendwie kaputt oder zumindest leicht beschädigt. Im Gerichtssaal trinken die Richter, die ein Urteil fällen sollten, Bier aus riesigen Gläsern, und nicht einmal der elektrische Stuhl funktioniert im entscheidenden Moment.

Pb ytl 16

Für die stille Melancholie des Alltags und die Sehnsüchte der Menschen findet der Regisseur einprägsame Wunder-Bilder. Die schönste Szene gehört dem Rockstar-Mädchen. Im Traum stellt sie sich vor, wie die Leute auf der Strasse ihr durchs Fenster zu ihrer Hochzeit mit Micke Larsson, dem Sänger ihrer Lieblingsband, gratulieren. Und Larsson stimmt auf seiner Gitarre eine Ballade an. In ihrem Traum sind die Menschen gut, und die Reise des jungen Paares scheint in eine vielversprechende Zukunft zu gehen, hinaus aus der Stadt, über die sich eine tonnenschwere Melancholie gelegt hat. Aber eben, es ist nur ein Traum. Immer wieder erzählen Figuren in Anderssons Film ihre Träume, direkt in die Kamera. Doch die Vermutung, der ganze Film, mit seiner seltsamen, weltfremden Atmosphäre, sei ein Traum, wäre zu einfach. Die Welt in You, the Living ist oft geradezu schmerzhaft real, die Träume nur ein Versuch, ihr zu entfliehen.

In dem bis auf eine Aufnahme in einem Studio in Stockholm gedrehten Film ist jede Einstellung ein surreales Gemälde. Die Bilder sind häufig in Totalen, mit nur minimen Kamerabewegungen, aufgenommen und mit einer monochromen Farbgebung versehen. Besetzt ist der Film grösstenteils mit Laien, die der Regisseur auf der Strasse ausgesucht hat. Das abgegriffene Set-Design erinnert an die Kreationen von Anna Viebrock, der Bühnenbildnerin von Christoph Marthaler. Und überhaupt ist die Nähe zu einer Theaterinszenierung von der ersten Einstellung an sichtbar.

Am Ende dieses mühseligen, verlorenen Tages (oder ist es eine Woche, ein Jahr?) lichten sich endlich die Wolken. Doch mit der Sonne kommt die Bedrohung. Hoch oben am Himmel über der Stadt ist sie mit Düsenantrieb im Anmarsch. Hier endet der Film und überlässt die Bewohner ihrem Schicksal.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

26. Okt. 2016

Kubo and the Two Strings

Ein kleiner tapferer Samurai ist der Held im an die japanische Mythologie angelehnten Epos, das auch Erwachsene in eine phantastische Welt voller Geister und waghalsiger Abenteuer entführt.

Kino

31. Juli 2013

Vénus noire

Gewiss, da und dort hat der Lauf von bald zweihundert Jahren einiges davon unvermeidlicherweise ausgeschmückt; dennoch, alles in allem beruht die Leidensgeschichte der «Venus der Hottentotten» auf Gelebtem und hat in jedem Fall einen Zweck zu erfüllen. Die Passion der «Schwarzen Venus», wie sie auch genannt wird, will an das fernere Herkommen des abendländischen Rassismus erinnern.

Kino

05. Sep. 2017

Manifesto

Aus einer Berliner Kunstinstallation ist ein Film fürs Kino entstanden: Cate Blanchett schlüpft in 13 verschiedene Figuren und trägt Kunstmanifeste vor. Ein nicht ganz unstrapaziöses Vergnügen.