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La caja

Text: Irene Genhart / 09. Apr. 2008

«Kanarische Inseln, sechziger Jahre» wird zu Beginn von Juan Carlos Falcóns La caja markiert. Das muss Jahre vor dem Einsetzen des Massentourismus gewesen sein: Viel unberührte Landschaft. Kleine Hafenstädte, versprengte Haciendas, winzige Fischerdörfchen. Ein Refugium für Einwanderer, Umsiedler, Flüchtlinge, Aussteiger diverser Couleurs. Ein Ort weitab vom Mutterland Spanien auch, an dem man etwas ungehemmter regimekritisch sein durfte als anderswo. Obwohl: Auch hier sorgten Francos Beamte für Ordnung. Einer von ihnen war der Marktaufseher Don Lucio. War. Denn Don Lucio ist in La caja von allem Anfang an tot. «Wir konnten nichts mehr für ihn tun», erklären die Ärzte – in einer erstaunlich laienhaften, ersten Szene – der verdatterten Gattin Eloísa.

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Selten kriegt man im grossen Kino ein derart unbekümmert im Lokalen verwurzeltes Werk zu sehen wie dieses Spielfilmdebüt des 1969 auf Gran Canaria geborenen Falcón. Dem Film zu Grunde liegt lose der Roman «Nos dejaron el muerto» eines gewissen, 1944 auf La Palma geborenen Victor Ramírez. Der erste Satz dieses Romans lautet, man weiss es dank des Presseheftes, ominös: «Der Tote wurde uns an einem Samstagmittag überlassen.» Nachdem er für tot erklärt wurde, wird Lucio ins Dorf überführt, wo er wohnte. Hier soll, wie Brauchtum und Katholizismus es verlangen, Totenwache gehalten werden. Das heisst: Lucio wird eingekleidet, aufgebahrt, eingesargt. Die Trauernden wachen, beten, klagen … auch drei hübsch krähenartige Klageweiber führt Falcón vor, und man kommt nicht umhin, sich an die Filme von Pedro Almodóvar zu erinnern. Zum einen wegen des da wie dort unerschrockenen Umgangs mit den Toten. Zum anderen, weil Falcón ähnlich wie Almodóvar in nichts als dem Menschlichen lotend, mit schwarzem Humor makaber Anmutendes auf die Leinwand bringt.

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Es beginnt damit, dass man feststellt, dass man den Toten auf der Bahre zwar in seine winzige Wohnung hinein-, nie und nimmer aber in einem Sarg wieder hinausbekommt. Da sich eine Aufbahrung im Hofe der Temperatur wegen verbietet, legt man Lucio kurzerhand ins Bett von Nachbarin Isabel. Diese macht entsetzt gute Miene zum bösen Spiel und schickt Eloísa in die Stadt, um einen Sarg zu besorgen. Derweil Eloísa in der Stadt lustvoll tut, was ihr Lucio zeitlebens verbot – nämlich die Haare färben, Kleider einkaufen und ins Kino gehen –, sitzt Isabel zu Hause und kocht. Kümmert sich um ihren kränklichen Sohn, der zur Hälfte des Films auf einer Matratze am Boden liegend Zeuge etwelcher, seiner kindlichen Unschuld garantiert abträglichen Ungeheuerlichkeiten wird. Denn nun kommen sie. Die einen, um Lucio heuchlerisch die letzte Ehre zu erweisen. Andere – Verratene, Erpresste, Vergewaltigte, Gedemütigte, Geschändete –, um sich an ihm zu rächen.

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Nicht in Rückblenden, sondern anhand von Taten und Reden lässt Falcón so die Vergangenheit seines despotischen Protagonisten auferstehen, und das verleiht seinem komischen Drama etwas Burlesk-Theatralisches. Pittoresk und schön gefilmt ist La caja. Die inszenatorischen Ungereimtheiten werden durch das souveräne Spiel einer flotten Damengarde – allen voran Elvira Mínguez, Antonia San Juan, Angela Molina – aufgewogen. Der Spannungsbogen steigert sich stetig-sanft bis zur letzten Szene, in der klar wird, dass die Zurückgebliebenen künftig zwar glücklicher leben werden, Lucio es dank teuflischem Plan jedoch gelang, ein letztes Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Reizvoll-eigenwillig ist La caja und seltsam beeindruckend. Eben eines dieser bizarr-makabren Filmchen, die man – und sei es nur, weil darin irgendwann eine Katze die unterm Tisch liegende Zunge des Toten verschlingt – so schnell nicht wieder vergisst.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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