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Shine a Light

Statt einen New Yorker Auftritt der Rolling Stones eins zu eins abzufilmen, inszeniert Shine a Light das Spektakel dokumentarisch. Kamera und Schnitt greifen kontrapunktisch in die Nummern ein, die sich sozusagen gegen die aggressive Montage zu behaupten haben.

Text: Pierre Lachat / 09. Apr. 2008

Klassisch, Jazz oder Rock, zuletzt bleibt die Musik ganz platt sie selbst. Immer, wenn die Ausweitung zu einem bewussten Stil fehlt, geraten aufgezeichnete Konzerte rasch vorhersehbar und eintönig. Statt einen New Yorker Auftritt der Rolling Stones eins zu eins abzufilmen, inszeniert Shine a Light das Spektakel dokumentarisch. Kamera und Schnitt greifen kontrapunktisch in die Nummern ein, die sich sozusagen gegen die aggressive Montage zu behaupten haben. Vor-, rück- und seitwärts gleitet und kurvt das Bild über einen begrenzten Innenraum, kreuz und quer, und es springt vertikal, horizontal, diagonal, ohne Ausrichtung nach einer gegebenen Achse. Der eingenommene Standpunkt ist überall und nirgendwo. Da ist gewiss ein einziger Schauplatz, und doch wirkt es oft, als wären es mehrere.

Martin Scorsese treibt eine Methode auf die Spitze, die er schon erprobt hat, recht gründlich bereits 1978. The Last Waltz schilderte den Abschied von «The Band». Ein Chor sang wie im Vorgriff auf heute: «I see my light come shining, from the West down to the East – Any day now, any day now, I shall be released». In Shine a Light nun reisst und sprengt das Verfahren die Songs förmlich auseinander, um sie neu, wie kubistisch zusammenzusetzen. Nie hetzt eine Sequenz hinter Takten, Rhythmen oder Modulationen her oder treibt sie vor sich hin. Wo immer es geht, hält Schnittmeister David Tedeschi dagegen, ähnlich, wie die Soli und Riffs auf der Gitarre ab und zu verquer, atonal in die Grundakkorde hinein schrillen und klirren. Mick Jagger, Keith Richards und Ron Wood, denen kein fester Ort auf der Bühne zugewiesen ist, scheinen bei jedem Schnitt, der auf einen von ihnen fällt, von einer andern Seite her vorzutreten, um einen andern Abgang zu wählen, nach hinten, links oder rechts. Eine einstudierte Choreografie wäre so fehl am Platz wie ein fester Standpunkt.

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Die Musik wird weder betont noch begleitet, heisst das, weder kommentiert noch hervorgehoben. Sondern der Film versucht, ihre Eigenart in der seinen zu spiegeln. Keinem der beiden Elemente ist es um Eleganz oder Raffinesse zu tun. Beide sind auf den Bruch jedes glatten, gefälligen Ebenmasses bedacht. Nichts Tänzerisches ist gefragt, keinerlei Ballett, sondern das Stampfende des Rock’n’Roll, das Raue und Rohe, der Taumel und die Tollheit, das Dröhnen und das Drohende, die Zerstörung und das Chaos, aber dann auch das Ironische, Parodistische und Clowneske. Rausch, Raserei, Exzess, Grimasse und Groteske grassieren. Es sind, mit andern Worten, alle jene rasch ineinander umschlagenden Verfassungen von Geist und Seele, die dem Kult des Dionysos zugeordnet werden. Und schon lässt sich ein bisschen leichter nachvollziehen, woher es rührt, wenn Bigotte den Vergleich mit satanischen Riten so gern bemühen.

Die klassischen Einspielungen der Gruppe erreichten 1971 mit «Sympathy for the Devil» ihren Höhepunkt. Die Aufnahme kam in einem kreativen Akt zustande, den Jean-Luc Godard denkwürdig gefilmt hat. One Plus One verfolgte den gesamten Hergang von den ersten Griffen auf dem Saitenbrett an bis zur Orchestrierung. Inzwischen werden die simpel-raffinierten Kompositionen von damals aufgegriffen und zerzaust. Blues und Country Music, denen die Rolling Stones viel zu verdanken haben, sehen sich herzlos der Lächerlichkeit preisgegeben. Die wenigen sensibeln Balladen, die Jagger und Richards seinerzeit geschrieben und interpretiert haben, sind wohl mit Bedacht ausgespart.

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Wohl nur so hat es das Quartett über die lange Zeit hin ausgehalten: indem es die Vergangenheit regelrecht eingestampft hat. Das geschah stracks vorbei etwa am frühen Tod von Brian Jones, an der Krebserkrankung des Schlagzeugers Charlie Watts und an einem kürzlichen Kopfsturz von Keith Richards. «Jumpin’ Jack Flash», «Satisfaction» und andere Stücke aus dem Repertoire sind denn nur dem Namen nach die gleichen geblieben. Die Art und Weise, vor allem aber der Geist der Rezitation ist mit den Autoren und Interpreten in die Jahre gekommen, ein Widerschein bloss von ehedem. Und doch: richt’ ein Licht – «shine a light» –, so verlangt es der Titel programmatisch, und schon könnte, allerdings nur für das ungeübte Auge, alles wie neu aussehen.

Auf diese Weise geht der Film über vier Jahrzehnten Geschichte nach, ohne sämtliche Fäden aufrollen zu wollen. Die Spuren, das sind die Falten in den Gesichtern von Mick Jagger und Keith Richards, und es ist der weisse Haarschopf von Charlie Watts. Thema sind die Musikanten mehr als ihre Musik. Der Ausschnitt aus einer Fernseh-Show der siebziger Jahre zeigt den Lead-Sänger, der auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, auch noch in dreissig Jahren auf der Bühne herumzusausen, nur kurz überlegen muss, ehe er bündig antwortet: ja. Der Schluss der Darbietung im Beacon Theatre unter einer hohen Art-Deco-Wand zeigt die Vier und ihre Mitmusiker, wie sie nach Art einer Fussballmannschaft einander die Arme über die Schultern legen. Die freundschaftliche Geste wirkt ganz unbeabsichtigt so, als müsste sich jeder an einem nächsten festhalten, damit ja keiner umfällt. Mick Jaggers -Gesicht ist aschgrau, eingefallen, verzerrt und erstmals an diesem Abend ungeschminkt alt. Nie wieder wird ihn jemand fragen, ob’s noch mal reicht, für ein paar weitere Dekaden. Kein Zweifel, von West nach Ost sieht er sein Licht herannahen, -leuchten, -scheinen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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