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El orfanato 08

El orfanato

Text: Oswald Iten / 10. Mai 2008

Dreissig Jahre, nachdem Laura adoptiert worden ist, kehrt sie in das praktisch unveränderte Waisenhaus ihrer Kindheit zurück. Zusammen mit ihrem Mann Carlos will sie ein Heim für geistig behinderte Kinder eröffnen. Laura wird als fürsorgliche Mutter eingeführt, die ihrem HIV-positiven Adoptivsohn Simon ein sorgloses Aufwachsen garantieren möchte. Sie hofft, Simon werde nach der Ankunft realer Spielkameraden nicht mehr länger an seinen imaginären Freunden festhalten. Vorerst erzählt er jedoch von immer neuen unsichtbaren Kindern, die in Laura diffuse Erinnerungen an die eigene Kindheit in eben diesem Haus wecken.

Als Laura eines regnerischen Tages allein zu Hause ist, taucht eine alte Frau auf, die sich als Sozialarbeiterin ausgibt und sich nach Simon erkundigt. Sie übergibt Laura eine Akte mit dessen Krankheitsgeschichte. Weil Laura verhindern will, dass der Junge etwas über seine Herkunft und Krankheit erfährt, wirft sie die unheimliche Alte hinaus. Doch als Laura in der Nacht von lautem Poltern geweckt wird und zusammen mit Carlos den Geräuschen in den Garten folgt, steht sie unverhofft derselben alten Frau gegenüber. Diese flieht jedoch, bevor Carlos sie zu Gesicht bekommt.

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Nun beginnt die sensible Laura, jede Ungereimtheit als Alarmzeichen zu deuten. Als Simon ihr erklärt, er werde nie alt, denkt sie sofort an seine Krankheit und befürchtet im ersten Augenblick, er habe die Akte entdeckt. Erst als sie realisiert, dass er J. M. Barries «Peter Pan» aufgeschlagen hat und in kindlichem Ernst beschlossen hat, nicht älter zu werden, ist sie erleichtert. Später werden wir erfahren, dass Simon die Akte tatsächlich gelesen hat und Laura sich ihrerseits mit Wendy identifiziert. Sie möchte ihren Freunden, die in der Erinnerung jung geblieben sind, eine Geschichtenerzählerin und Ersatzmutter sein. Noch weiss sie nicht, dass diese Kinder auch in der Realität nie älter geworden sind.

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Passend dazu scheint am Ort ihrer Kindheitserinnerungen – einem «Neverland» gleich – die Zeit stehen geblieben zu sein, zumal sich kaum mehr Menschen zum abgelegenen Anwesen an der spanischen Küste verirren. Der rauhe Küstenwind sorgt mit Hilfe auf- und zugehender Türen sowie differenziertem Knarren und Pfeifen im Gebälk für eine grossartig abstrakte Tonkulisse. Das zeitlose Setting erlaubt den Machern, die Geschichte in der heutigen Realität anzusiedeln, ohne auf eine gothic horror-Atmosphäre verzichten zu müssen. Fast schon altmodisch schafft die sorgfältige Orchestrierung filmischer Mittel ein Gewebe aus Andeutungen und Vorahnungen.

Juan Antonio Bayona und sein Drehbuchautor Sergio G. Sánchez vermitteln uns unbemerkt die Spielregeln ihres Films und streuen genügend subtile Hinweise auf kommende Ereignisse ein, dass wir der gleichen Interpretationslogik folgen wie Laura. Wenn Simon beispielsweise mit seiner Mutter eine Schnitzeljagd spielt, bei der ein falsch platzierter Gegenstand auf den nächsten Fundort hinweist, erfahren wir vorerst einiges über Simons Denkweise und Wissensstand. Als der Junge kurz darauf aber spurlos verschwindet, beginnen auch wir als Zuschauer plötzlich, überall Zeichen zu sehen und jeder Unordnung Bedeutung beizumessen.

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El orfanato ist in erster Linie ein mit den Mitteln des Horrorfilms erzähltes Drama um eine Mutter, die mit Trennung und Verlust nicht umgehen kann. Dank eines sorgsam konstruierten Drehbuchs und -einer überzeugenden Belén Rueda funktioniert Laura nicht bloss als Projektionsfläche für existentielle Ängste, sondern besteht als differenziertes Individuum. Da sie den Kontakt mit den imaginären Freunden ihres Sohnes aktiv sucht, kann El orfanato ein entscheidendes Problem des Horrorfilms erfolgreich umgehen: Schliesslich ist für jeden Zuschauer nachvollziehbar, dass eine Mutter für ihr Kind bis zum Äussersten geht. Somit hat sie eine echte Motivation, sich ins Dunkle vorzuwagen.

Die Bereitschaft des Publikums, Glaubwürdigkeitszweifel zu Gunsten der Unterhaltung aufzugeben, wird in Filmen mit übersinnlichen Elementen normalerweise arg strapaziert. In Glücksfällen wie The Sixth Sense stellen wir die Existenz einer Parallelwelt nie in Frage, weil wir als Zuschauer den Blickwinkel der Identifikationsfigur als objektive Filmrealität akzeptieren.

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Bayona und Sánchez spielen geschickt mit dieser Problematik. Nur in wenigen Momenten höchster physischer Erregung suggeriert eine Handkamera Lauras subjektive Wahrnehmung. Im Gegensatz dazu zeigen kunstvoll arrangierte Einstellungen immer wieder, was die Protagonistin selbst nicht sehen kann, sich aber vorstellt. Dennoch werden diese Aufnahmen im Kontext des Filmes nicht als objektiv gelesen. Denn jedesmal, wenn eine Szene ins Übersinnliche zu entgleiten droht, wird der Zuschauer damit beruhigt, dass es für alles eine natürliche Erklärung geben muss. Meist fällt diese Aufgabe dem rationalen Carlos zu, dessen Einwände diejenigen der Zuschauer vorwegnehmen.

Entgegen gängiger Genrekonventionen holen sich Laura und Carlos nach dem Verschwinden Simons jede erdenkliche Hilfe von aussen. So wird Lauras Wahrnehmung ständig in Relation zu derjenigen ihres Umfelds gesetzt. Erst als Polizei, Psychologie und selbst ein Medium Simon nicht zurückbringen können, entscheidet sich Laura für den Alleingang. Anders als in M. Night Shyamalans Film muss sich der Zuschauer der Sichtweise der Protagonistin aber nicht unterwerfen, um den Film zu geniessen.

Wie das von Geraldine Chaplin wunderbar exzentrisch verkörperte Medium prophezeit, glaubt Laura nicht, was sie sieht, sondern sieht, was sie glaubt. Selbst im Moment der bitteren Erkenntnis weigert sie sich noch, die Realität zu akzeptieren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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