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Autre moitie 13

L'autre moitié

Der Schweizer Drehbuchautor und Regisseur Rolando Colla hat sich mit L’autre moitié einiges vorgenommen. Der Sohn italienischer Gastarbeiter erzählt die Geschichte zweier multikulturell aufgewachsener Brüder, die sich nach fünfunddreissig Jahren unter schwierigen Umständen wieder begegnen.

Text: Stefan Volk / 01. Juli 2008

Der Schweizer Drehbuchautor und Regisseur Rolando Colla hat sich mit L’autre moitié einiges vorgenommen. Der Sohn italienischer Gastarbeiter erzählt die Geschichte zweier multikulturell aufgewachsener Brüder, die sich nach fünfunddreissig Jahren unter schwierigen Umständen wieder begegnen. Während der eine, Louis, nach der Trennung der Eltern als kleiner Junge bei seiner Schweizer Mutter in deren Heimat aufwuchs, musste der andere, Hamid, mit dem Vater zurück nach Algerien. Dort blieb er bis zum Selbstmord des Vaters. Danach nahm ihn ein Onkel unter die Fittiche, erzog ihn streng islamisch und vermittelte ihm schliesslich Kontakte zu einem international operierenden illegalen Netzwerk, das im Verdacht steht, Terroranschläge zu finanzieren. Die Arbeit als Kurier für diese Organisation bot Hamid die ersehnte Gelegenheit, das verhasste Algerien zu verlassen. Als Louis sich nach all den Jahren bei ihm meldet, lebt Hamid in Brüssel. Hinter den Anrufen des Bruders vermutet er zunächst ein taktisches Manöver der Polizei.

Gleich in den ersten Szenen des Films wird deutlich, dass das Familiendrama – die Annäherung zwischen den fremden Brüdern – sich über eine rein psychologische Auseinandersetzung hinaus zu einer exemplarischen Darstellung unterschiedlicher Migrantenschicksale ausdehnen soll und in der geweiteten Perspektive auch das Phänomen des internationalen Terrorismus mit erfassen will. Doch damit nicht genug. Wenig später kommt noch eine attraktive junge Frau ins Spiel und ergänzt das Themenpanoptikum um ein Liebes- und Eifersuchtsdrama.

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Trotz seiner Bedenken trifft sich Hamid mit Louis in der Schweiz, als dieser ihm berichtet, ihre gemeinsame Mutter sei sterbenskrank. Unterwegs gesteht Louis seinem Bruder dann aber, dass die Mutter schon seit Tagen tot ist. Wutentbrannt beschliesst Hamid, sofort nach Brüssel zurückzureisen. Auf dem Weg zum Bahnhof geraten die beiden Brüder jedoch in eine Verkehrskontrolle. Hamid wird als mutmasslicher Kurier der Terroristenszene festgenommen und verhört. Wenig später kommt er gegen Zahlung einer Kaution wieder frei. Das Geld hat Louis auf zwielichtigen Wegen aufgetrieben. Unmittelbar vor der Polizeistation trifft Hamid anschliessend das erste Mal auf Louis’ Freundin Isabella.

Sofort spürt man, wie es zwischen den beiden knistert und Collas Psychodrama ins Genrekino hinüberrutscht. Psychologisch werden die Beweggründe für Isabellas Handeln nämlich ebenso wenig entwickelt wie die Beziehungsstrukturen zwischen ihr und den beiden Brüdern. An Nade Dieu, die ihrer Figur immerhin eine melancholisch-rätselhafte Aura verleiht, liegt es jedenfalls nicht, dass Isabella als Frau gewordener Zankapfel im Bruderstreit zum identitätslosen MacGuffin erstarrt. Das Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Verrat nimmt im Liebesstreit um Isabella ebenso dramaturgische Gestalt an wie in Louis’ heimlicher Zusammenarbeit mit der Polizei. Denn Hamids anfänglicher Verdacht, Louis sei ein von der Polizei beauftragter Spitzel, scheint sich nun doch noch zu bestätigen.

So wird das sensible psychologisch-kulturell-politische Geflecht, das Colla ursprünglich zu entfalten begann, mehr und mehr von einem genretypischen Räuber-und-Gendarm-Spiel überlagert; Seiten- und Schusswechsel inklusive. Authentisches Leben wird von den Gattungskonventionen zunehmend in den Hintergrund gedrängt, bleibt aber andererseits virulent genug, um die freie Entfaltung eines ganz auf oberflächliche Unterhaltung angelegten Bruderkrimis zu hemmen.

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«Ich wollte eine ernsthafte, komplexe Geschichte spannend erzählen», begründet Colla seine Wahl für das Genre des psychologischen Thrillers. In Collas Dramaturgie stehen sich Psychologie und Spannung jedoch bisweilen im Wege, weil sie sich wechselseitig der Glaubwürdigkeit beziehungsweise der gefühlten Unmittelbarkeit berauben. Letztlich gelingt es Colla nicht, den Widerspruch zwischen Genderfiktion und sozialkritischem Realitätsbezug aufzuheben. Dafür bleibt er an Stellen, die psychologisch erschlossen werden müssten, zu vage, vertieft sich andererseits zu lange in gefühlsschwere Gespräche über traumatische Kindheitserinnerungen, um einen schwungvollen Plot am Leben zu halten. Der terroristische Hintergrund verkommt zur zeitgemässen Kolorierung.

Dass Collas Hybrid aus Psychodrama, Thriller und Sozialstück schliesslich aber doch nicht auseinanderfällt, verdankt der ansonsten solide inszenierte und ohne besondere Schauwerte von Peter Indergand unauffällig fotografierte Film vor allem seinen beiden hervorragenden Hauptdarstellern. Kader Boukhanef als Louis und Abel Jafri in der Rolle Hamids gelingt es über weite Strecken, die dramaturgischen Lücken und Unbedachtheiten des Drehbuchs zu überspielen. Und das nicht etwa, indem sie wuchtig und effektheischend chargieren, sondern schlicht dadurch, dass sie stets ganz da sind. Hinter ihren traurig, wütend, sehnsuchtsvoll, wehmütig, reuig oder zärtlich leuchtenden, funkelnden und blitzenden Augen, verbergen sich all jene Geschichten, die L’autre moitié andeutet, ohne sie zu Ende zu erzählen und – ob der natürlichen Leinwandpräsenz seiner Protagonisten – auch ohne sie zu Ende erzählen zu müssen. Vielmehr verflüchtigen sich die ganzen Vorgeschichten, Hintergründe und Drehbuchkapriolen zum schmückenden Beiwerk dessen, was der Film im Wesentlichen ist: intensiv gespieltes Charakterkino. Eines allerdings, das darunter leidet, dass es gleichzeitig noch etwas anderes sein möchte.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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