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Bergauf, bergab

Text: Thomas Basgier / 01. Sep. 2008

Weiterhin tragen sie keine Schuld daran, dass sie einfach nur da sind – die Bergler in den Bergen. Das spielt natürlich an auf den Titel von Fredi Murers einfühlsamer Dokumentation aus dem Jahr 1974 über den teils dramatischen Wandel der traditionellen Agrarwirtschaft im Kanton Uri. Tatsächlich gibt es sie nach wie vor, wenn auch in geringer Zahl, die Schweizer Bergbauern. Allein deren schiere Noch-Existenz in Zeiten globaler Verteilungskämpfe und der Dialektik zwischen Preisdrückerei und Preistreiberei hat prinzipiell etwas zutiefst Anrührendes und zudem etwas Tröstliches. Das vermittelt relativ eindrücklich Hans Haldimann: In Bergauf, bergab porträtiert er das «strenge» Leben der Familie Kempf, die drei Höfe ihr eigen nennt und zehnmal im Jahr gemeinsam mit dem Vieh von einem zum anderen zieht. Wie schon stellenweise bei Murer, so bildet auch hier das Urner Schächental die Kulisse für ein Dasein zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum. Dessen heftigste Herausforderung besteht in der permanenten Überwindung der Höhenunterschiede: Das eine Gehöft liegt im Tal, das zweite auf einer Höhe von 1130 Metern, das dritte auf über 1700 Metern.

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Den Rhythmus der Ortswechsel bestimmt dabei im Grunde die Herde der Kempfs. Die Milchkühe werden jeweils dorthin geführt, wo die Wiesen gerade am saftigsten und die Heuvorräte am grössten sind. Und folglich orientiert sich die dramaturgische Grobstruktur des Films an den vier Jahreszeiten, denn über zwölf Monate hinweg hat Haldimann die Familie beinah wöchentlich aufgesucht. Es beginnt im Winter, als man den Bauern Max Kempf mit seinem Vieh durch den Neuschnee stapfen sieht, und setzt sich fort mit Bildern von der Kälberaufzucht im Frühjahr, des Heuens an schwindelerregenden Hängen und vom Bau eines neuen Stalls im Sommer, für den die Dachbalken per Helikopter eingeflogen werden müssen. Obwohl Monika Kempf ebenfalls die Sense schwingt und die Melkmaschine bedient, wird sie zumeist – ganz traditionell – bei der Hausarbeit gezeigt, und sie erzählt, dass sie eigentlich nie Bäuerin werden wollte. Etwas zu oft und zu aufdringlich fängt die Kamera die zwei kleinen Buben des Paars ein.

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So dezidiert sich der Regisseur ansonsten jegliche nostalgische Verklärung des archaischen Lebensstils verkneift, so sehr läuft er in jenen Einstellungen manchmal Gefahr, das Aufwachsen von Kindern unter den besagten Bedingungen zu idyllisieren. Dabei wirkt es bezeichnend, dass die beiden Jungs als Spielkameraden nur sich selber zu kennen scheinen. Wechselweise treten dann noch auf: die schon etwas betagteren Eltern von Max Kempf beziehungsweise seine jüngeren Geschwister. Auch hier lässt sich eine Art Wanderbewegung konstatieren: Man pendelt wahlweise, je nach Bedürfnis und Notwendigkeit, zwischen Klein- und Grossfamilie.

Zwangsläufig drängt es sich auf, Haldimanns dokumentarischen Ansatz mit den Arbeiten eines anderen eidgenössischen Regisseurs zu vergleichen, mit denen Erich Langjahrs, der sein Credo einst so formulierte: «Mich interessiert das überlieferte Wissen des einfachen Lebens, die Grundlage der menschlichen Existenz.» Den aus dieser Haltung resultierenden kompromisslosen Studien über Daseinsentwürfe jenseits des aktuellen Zeitgeistes (Sennenballade, 1996; Hirtenreise ins dritte Jahrtausend, 2002; Das Erbe der Bergler, 2006) hat Haldimann – sagen wir es so – einiges zu verdanken. Was die beiden Filmemacher voneinander unterscheidet, ist freilich Langjahrs überragendes Gespür für Timing und Montage, sein Aushalten und Zulassen der manchmal quälenden Langsamkeit realer Vorgänge sowie seine Begabung für gelungene Bildkompositionen.

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Dennoch existiert sehr wohl eine Art persönliche Gemeinsamkeit zwischen dem Altmeister und seinem offenkundigen Bewunderer: In bergauf, bergab geht es nämlich gar nicht bergauf und bergab. Die Dokumentation reiht zwar die Stationen der Geschehnisse einigermassen chronologisch aneinander, aber sie visualisiert nicht, wie die Familie in anstrengenden Auf- und Abstiegen von einem Ort zum nächsten kommt. Mit Sicherheit ist dies vor allem dem Umstand geschuldet, dass Haldimann das Projekt aus Kostengründen ohne Team realisieren musste, Regisseur, Kamera- und Tonmann in Personalunion war, bepackt mit allem, was es an Equipment so braucht. Die Konsequenz in puncto autonomen Produzierens verbindet den einstigen Reporter mit dem Kinoautoren Langjahr, welcher ja sogar als sein eigener Verleiher fungiert. Insofern definiert sich bergauf, bergab auch als ein individuelles Dokument über die Mühsal und die physischen Grenzen von Dreharbeiten in schwierigem Gelände. Zugleich folgern daraus einige räumliche Irritationen (man weiss nicht immer hundertprozentig, auf welchem Hof sich die Familie momentan wirklich tummelt), die auf der Ebene der filmischen Feinstruktur mit gewissen Störungen des Zeitempfindens korrespondieren: So manche Nachtaufnahme wirft die Frage auf, ist es bereits dunkel oder ist es noch dunkel, neigt sich der Tag seinem Ende oder fängt er gerade erst an? Das ist beileibe kein Manko. Im Gegenteil: Versinnbildlicht es doch ein bewusst von der Norm abweichendes Raum-Zeit-Gefüge, bedingt durch ein Leben, das Mobilität hauptsächlich als vertikale und nicht als horizontale Bewegung kennt und dessen Arbeitstage fünfzehn Stunden und mehr umfassen. Ein Raum-Zeit-Gefüge, das trotz oder gerade wegen aller Plackerei Raum und Zeit bietet für die Selbstbestimmtheit des eigenen Handelns und damit für die Negation der Entfremdung zwischen dem Ich, dem Wir und der Welt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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