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Nomad's Land - Sur les traces de Nicolas Bouvier

Kühns Film meidet jeden Kommentar. Ist keine Biografie, sondern eine Annäherung des Regisseurs an das Denken und Fühlen seines Protagonisten, beziehungsweise ein Eindringen und Versinken in dessen Werk.

Text: Irene Genhart / 01. Jan. 2009

Da kam vor drei Jahren dieser wunderlich-schöne Film von Christoph Kühn ins Kino: Nicolas Bouvier, 22 Hospital Street ist sein Titel. Dieser verwebt Texte – Reisebeschreibungen, Tagebücher, Briefe – des 1998 verstorbenen und 1929 geborenen Genfer Schriftstellers und Fotografen Nicolas Bouvier mit den poetisch-verspielten Bildern einer vom Regisseur auf dessen Spuren unternommenen Reise. Kühns Film meidet jeden Kommentar. Ist keine Biografie, sondern eine Annäherung des Regisseurs an das Denken und Fühlen seines Protagonisten beziehungsweise ein Eindringen und Versinken in dessen Werk: Als «imaginäres Porträt» bezeichnet Margrit Tröhler treffend Kühns Film in einem schlüsselreichen Aufsatz im kürzlich erschienenen Buch «Kino CH / Cinéma CH»*.

Und nun also stellt der Walliser Journalist, Schriftsteller, Medienschaffende, Filmemacher, und – ja auch – Denker und Weltenbummler Gaël Métroz mit Nomad’s Land seinen ersten langen Kinofilm vor. Sein Untertitel – Sur les traces de Nicolas Bouvier – kündet an, dass auch er sich mit Leben und Werk des Westschweizer Intellektuellen auseinandersetzt. Ein wenig wundert man sich schon, ob solch thematischer Doppelspurigkeit. Man geht mit Vorbehalten ins Kino, aber doch offenen Auges und wird schnell belehrt, dass wenn zwei das Gleiche tun, dies nie das Selbe ist.

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Obwohl auch Métroz’ Film von Bouviers Texten, konkret von dessen «L’Usage du Monde» («Die Erfahrung der Welt») ausgeht, und er – ähnlich wie Kühn – der Route folgt, auf welcher Bouvier von 1953 bis 1956 zusammen mit dem Maler Thierry Vernet in einem Fiat Topolino von der Schweiz, via Türkei, Afghanistan nach Indien und Sri Lanka gelangte, ist Nomad’s Land ganz anders als Nicolas Bouvier, 22 Hospital Street. Verliert sich Kühn im eigentlichen Sinn des Wortes in Bouviers Werk, bildet dieses bei Métroz die Ausgangslage für des Filmemachers eigene Erfahrung des Fremdseins im Reisen; erst in der Entfernung von Bouvier und seinem Buch, der Abweichung von der vorgegebenen Spur, beginnt sich Métroz Bouviers Philosophie des Reisens zu nähern. Am Anfang dieser Mise-en-abyme steht die enttäuschende Erkenntnis, dass manche Orte – vor allem Tabriz, diese im Iran gelegene «Stadt aus Tausendundeiner Nacht», welche Bouvier als magischen Ort der Künste beschreibt – auf den Filmemacher heute ganz anders wirken. Der Zahn der Zeit nagte, die Geschichte hinterliess ihre Spuren: Tabriz ist heute eine islamische Industriestadt wie viele andere. Haben sich Bouvier und Vernet hier monatelang verloren, so ist für Métroz Tabriz kein Ort, an dem er verweilen möchte. Er schliesst sich opiumrauchenden Nomaden an, die sich «in Tabriz genauso unglücklich fühlen wie ich», und verlässt in deren Gesellschaft die in «L’Usage du Monde» beschriebene Route.

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In der Folge verliert sich Métroz im Unterwegs-Sein. Er folgt – meist zu Fuss, manchmal zu Pferde, Kamel, Dromedar, Yak, seltener in einem Jeep, einem Bus – jahrhundertalten Passagen und abgelegenen Pfaden. Schliesst sich für Wochen und Monaten Nomaden an. Zieht mit Kaschgais durchs Zagros-Gebirge Richtung Persischer Golf, verbringt den Winter mit einer Kalash-Familie im Hindukush. Wie eine Liebe auf den ersten Blick zieht ihn das einfache, dem simplen Sein verpflichtete Leben in Bann: «Zum ersten Mal», schreibt er in sein Journal, «vergesse ich den Rest der Welt, bin ich ganz glücklich.» Doch seine Reise geht weiter. Führt ihn durch den Wakhan-Korridor nach Afghanistan, zu den Tadschiken und schliesslich durch die Wüsten Punjabs nach Indien, wo ihn eine Zigeunerfamilie aufnimmt. Dreizehn, statt wie geplant sechs Monate ist Métroz unterwegs; im Februar 2006 schreibt er: «Falls ich nicht zurückkehren sollte, kommt mich nicht suchen, ihr würdet dableiben.» Métroz, der in Lausanne Literatur und Photographie studierte, ist Autodidakt, was das Filmemachen betrifft. Man sieht es Nomad’s Land bisweilen an; vor allem die Anfangsszene, in welcher der Regisseur Nicolas Bouviers Witwe besucht, wirkt amateurhaft. Doch ist es vielleicht gerade dieser unerschrocken-naive, sehr persönliche Zu- und Umgang mit der Kamera und der Situation des Filmens, die diesen kleinen aber bilderprächtigen Film auf seine Art einmalig, auch einmalig schön macht: Bilder von nur ganz selten fotografierten Landschaften ziehen über die Leinwand, aber auch intime Aufnahmen aus dem Alltag von Menschen, die Völkern und Ethnien angehören, von denen hierzulande kaum je die Rede ist, es sei denn, es herrschen bei oder unter ihnen Unruhen und Krieg. «Schreibe und beschreibe mir, was du erlebst», fordert Eliane Bouvier Métroz während seines Besuches auf. In ihrer Aufforderung steckt der Auftrag zu einem Kommentar, der sich als tagebuchartige Reflexion über den ganzen Film legt. Es steckt in dieser radikal egozentrierten Art des Filmemachens der Gestus einer philosophischen “Relecture”, der Aneignung eines fremden Textes, fremden Gedankengutes, fremder Erfahrung durchs eigene (gedankliche Nach-)Erleben. Es steckt darin auch der von Alexandre Astruc geprägte Begriff der «caméra stylo», einer poetischen und persönlichen Art eigenständigen filmischen Erzählens, der jeden Vergleich – hier etwa mit Nicolas Bouvier, 22 Hospital Street – obsolet macht.

*Margrit Tröhler: Ein imaginäres Porträt In: A. Boillat, P. Brunner, B. Flückiger (Hg.): Kino CH / Cinema CH, Schüren, 2008, S. 99ff.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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