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Forteresse 03

La forteresse

Im kleinen Städtchen Vallorbe im Waadtländer Jura steht das Empfangs- und Verfahrenszentrum für Asylsuchende. Es ist der Ort, an dem über die Zukunft Hunderter von Flüchtlingen bestimmt wird. La forteresse schafft einen exklusiven Einblick in diese «Festung», die auch als Metapher für die Schweiz gelesen werden kann, nähert sich einigen Insassen auf Augenhöhe, beobachtet andere nur aus der Ferne.

Text: Sarah Stähli / 04. Mär. 2009

Ein Junge mit vernarbtem Gesicht erzählt, wie sein Vater umgebracht wurde – ein Vater erzählt unter Tränen vom brutalen Tod seines Sohnes. Er wurde so sehr verstümmelt, dass nur noch ein Körperrumpf von ihm übrig blieb. Es sind Szenen, wie sie in keinem Horrorfilm grässlicher dargestellt werden könnten. In den Interviewbüros des Empfangszentrums für Asylsuchende aber ist es trauriger Alltag. So sehr Alltag, dass die Befragenden die schrecklichen Erzählungen scheinbar ohne emotionale Rührung in ihr Computerformular eintippen, immer wieder nachhaken und zum Trost den in Tränen ausbrechenden Befragten ungeschickt ein Glas Wasser anbieten.

Forteresse 25

Die Geschichte eines Somaliers, der mit Wunden am Bein vierzig Tage durch die Wüste geirrt ist und dem schliesslich auf einem kleinen, überfüllten Boot die Flucht gelang, wenn auch nur, weil er das Fleisch eines verstorbenen Mitpassagiers gegessen hat, scheint einer Beamtin zu unglaubwürdig, zu viel Schicksal auf einmal: «Das klingt irgendwie zu stereotyp», meint sie. Ihre Beurteilung wird unter anderem ausschlaggebend dafür sein, ob dieser Mann in der Schweiz bleiben kann oder zurückgeschickt wird. Diese Interviews – die Kamera ruht meist still, in Grossaufnahme auf den Gesichtern der Befragten und den Befragenden – gehören zu den eindrücklichsten Momenten, die man seit langem in einem Schweizer Dokumentarfilm sehen konnte.

Forteresse 04

Der Westschweizer Dokumentarfilmer Fernand Melgar wurde als Sohn spanischer Gewerkschafter, die in Marokko im Exil lebten, geboren und flüchtete 1963 als Zweijähriger mit seiner Mutter in die Schweiz, wo sein Vater als Saisonnier arbeitete. Den Ausschlag, einen Film über Asylsuchende in der Schweiz zu drehen, gab aber nicht nur seine eigene Herkunft, sondern vielmehr die 2006 vom Schweizer Stimmvolk angenommene Initiative zur Verschärfung des Asyl- und Ausländergesetzes.

Im kleinen Städtchen Vallorbe im Waadtländer Jura steht das Empfangs- und Verfahrenszentrum. Es ist der Ort, an dem über die Zukunft Hunderter von Flüchtlingen bestimmt wird. Die ehemalige Militärkaserne ist ausgestattet mit Stacheldraht, Überwachungskameras und umgeben von einem Zaun, der an einen Hundezwinger erinnert. Melgar dringt mit seinem Filmteam in diesen abgeschotteten Mikrokosmos ein, behutsam und doch dringlich. Sechzig Tage lang – dies die maximale Aufenthaltsdauer eines Gesuchstellenden – dauerten die Dreharbeiten zwischen Herbst 2007 und Frühling 2008. La forteresse schafft einen exklusiven Einblick in diese «Festung», die auch als Metapher für die Schweiz gelesen werden kann, nähert sich einigen Insassen auf Augenhöhe, beobachtet andere nur aus der Ferne.

Forteresse 17

Ganz am Anfang zeigt ein Neuankömmling aus Armenien beim Empfang auf der Landkarte, woher genau er kommt. Später wird er von einem Mitinsassen aus Litauen eingeführt: Rauchen muss man auf den Toiletten, damit die Aufseher es nicht merken, Frühstück gibt es nur für Frühaufsteher, und Afrikaner habe es sehr viele hier. «Du wirst schon sehen», beruhigt er ihn. Der Armenier schaut nur traurig und fragt: «Wie lange bist du schon hier?»

Der Alltag im Zentrum ist vor allem von zwei Gefühlen dominiert: der Ungewissheit, wie es weiter geht, und einer aufgezwungenen Langeweile. Die Ausgehzeiten sind strikt geregelt, wer zu spät kommt, wird wie ein rebellischer Jugendlicher behandelt. Und Ausgang bedeutet hier, im Niemandsland am Bahnhof Bier zu trinken und von den Einheimischen schräg angeschaut zu werden.

Es gibt in Melgars Film immer wieder in grossartigen Bildern erzählte beinahe surreale Szenen: Ein Asylsuchender verkleidet sich als Nikolaus und verteilt mit verrutschtem angeklebtem Schnauz den Kindern Weihnachtsguetzli. Ein Afrikaner feiert eine Messe, in der er der Schweiz und dem Zentrum dankt und für einen positiven Ausgang der Verfahren betet, der Zentrumsleiter lässt sich nach und nach von dem leidenschaftlichen Sermon mitreissen. Oder eine Gruppe aus dem Zentrum hilft einem lokalen Forstwart aus und allesamt werden in dieselbe Uniform aus grünen Regenmänteln und gelben Gummistiefeln gesteckt.

Forteresse 11

Melgar verzichtet sowohl auf Interviews wie auch auf einen Off-Kommentar. In seiner rein beobachtenden Haltung könnte man ihm vorwerfen, dass er keine Stellung beziehe. Doch die Bilder und die Gespräche der Angestellten untereinander sprechen Bände. Die Beamten, zum Teil scheinbar ohne Empathie, zeigt er als Menschen, die einfach nur ihren Job machen. Einem jungen Afrikaner ohne den geringsten Hoffnungsschimmer, der bei einem Gespräch zusammenbricht, wird von einem kaugummikauenden Angestellten, liebevoll zwar, aber hilflos, auf die Schulter geklopft. In einer anderen Sequenz sprayt eine Aufseherin die Gänge des Zentrums vehement mit Duftspray ein. Wenn ein Baby geboren wird, inmitten des Bangens und der Hoffnungslosigkeit, dann freut sich ein Aufseher fast genau so sehr wie die Eltern. Auch das ist Alltag in der Festung.

Wie nahe das Filmteam teilweise an diesen Menschen dran ist, ist bemerkenswert. Trotzdem konzentriert er sich nicht auf Einzelschicksale: Die Geschichte bleibt mal länger bei einem Flüchtling aus Bagdad, dann verweilt er bei einer Roma-Familie und räumt dann wieder Platz ein für einen Togolesen, der auf der Suche nach seinen Eltern in die Schweiz gekommen ist.

Es sind die präzisen Beobachtungen, die von der Diskrepanz der hochdramatischen Schicksale der Insassen und dem Arbeitsalltag der Angestellten erzählen, die Melgars Studie so aussergewöhnlich, so menschlich machen.

Forteresse 28

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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