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The World Is Big and Salvation Lurks Around the Corner

Text: Irene Genhart / 04. Mär. 2009

«Welch tolles Pseudonym!» hat meine Tochter letzthin gerufen und nach dem Buch gehascht, in welchem ich schmökerte. «Kein Pseudonym», habe ich gekontert und bin gleichwohl an ihrer Bemerkung hängengeblieben. Ilija Trojanow! – welch bedeutungsschwangerer Name. Und wie treffend auch für diesen am 23. August 1965 in Sofia geborenen Mann, der – seit er 1971 mit seinen Eltern aus Bulgarien floh – nichts anderes tut als weltenbummeln. Der Rechtswissenschaft und Ethnologie studierte, in Deutschland, Kenia, Indien, Südafrika gleichermassen zu Hause zu sein scheint, immer wieder Monate lang unterwegs ist und vorwiegend Reisereportagen und Bücher verfasst. Auch seine Romane erzählen vom Unterwegs- und Fremd-Sein. Sind Entdeckungs- und Entwicklungsgeschichten, Berichte innerer und äusserer Odysseen.

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Erstmals nun dient ein Trojanow-Buch als Vorlage für einen Film. Nicht der weltbekannte «Der Weltensammler» aus dem Jahr 2006, sondern der zehn Jahre früher entstandene Erstling mit dem wunderschön sinnigen, aber unmöglich langen Titel «Die Welt ist gross und Rettung lauert überall». Mit starken Bezügen zu seines Autors Biographie erzählt der Roman die Geschichte eines gewissen Alexander, der mit Nachnamen Luxow (im Buch) beziehungsweise Giorgiew (im Film) heisst. Alexander verbringt seine ersten Lebensjahre unter Obhut von Eltern und Grosseltern in einem Kaff in Bulgarien, «wo Europa endet und der Balkan nie anfängt», wie es im Film heisst. Es sind harsche Zeiten. Das Volk stöhnt unter der Diktatur. Mit seinen Eltern zieht der siebenjährige Alexander auf abenteuerlicher Flucht nach Deutschland. Die Eltern sterben bald. Alex rasselt in eine Depression, leidet an Oblomowitis. Schliesslich ist es sein – im Roman inzwischen sagenhafte neunundneunzig Jahre alter – Grossvater und Taufpate Bai Dan, der nach Deutschland fährt und seinen Enkel auf einer Fahrt auf einem Tandem in die Heimat und das Leben zurückbefördert. Sprachlich verspielt, bisweilen ins Magische abschweifend, häufig die Perspektive wechselnd, ist «Die Welt ist gross und Rettung lauert überall» höchst anspruchsvoller Lesestoff.

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Da macht es der unter Regie von Stephan Komandarev entstandene Film seinen Rezipienten schon einfacher: Er ist äusserst süffig. Zieht ab der ersten Sekunde – dem Geschrei einer Gebärenden und dem Klacken fallender Würfel vor dunkler Leinwand – einen in Bann. In Mehrfachverknotung verschlingt Komandarev verschiedene Stränge und Ebenen. Vergangenheit mit Gegenwart. Osten und Westen. Alexanders Story mit derjenigen von Bai Dan, Weltgeschichte und Backgammon-Spiel. The World is Big and Salvation Lurks Around The Corner ist Schlemihliade, Schelmenspiel, Coming-of-Age- und Entwicklungsgeschichte in einem. Ein wenig auch Spielerfilm, in welchem die Philosophie der Würfel zur Metapher menschlicher Befindlichkeit und Verhaltens werden.

So müssig der direkte Vergleich von literarischer Vorlage und filmischer Adaption gemeinhin ist, ist doch anzumerken, dass eines der eindrücklichsten Bilder des Romans – der «auf Friaul niederschwebende Engel» – im Film leider fehlt. Es stammt von der Flucht, auf welcher Vater Vasko mit Schwung Alexander über eine Mauer vom Osten in den Westen wirft, wo dieser – o Wunder! – unversehrt im Heukarren eines zufällig vorbeikommenden Bauern landet. Solche Mystifizierung verbietet sich der Film. Er ist handfester. Fügt an Alexanders Geburt im Osten dessen zweites Auf- die Welt-Kommen im Westen direkt an: den gut zwanzig Jahre später passierten Autounfall, bei dem die Eltern sterben und nach dem Alex, an «retroaktiver Amnesie» leidend, sich an nichts mehr erinnert. Stante pede fährt Bai Dan, der Meister aller Würfler, aus der heimlichen Hauptstadt der Spieler nach Halle. Setzt sich mit einem Backgammon-Spiel ans Spitalbett seines ihn nicht wiedererkennenden Enkels. Die Lage scheint hoffnungslos, nach einigen Wochen befindet Bai Dan, dass die Ärzte Alexander nicht gesunden lassen. Er treibt ein Tandem auf, packt Alex auf den hinteren Sitz, und so strampeln sie los. Quer über die Alpen nach Bulgarien. Eingesprenkelt in diese Tour, auf welcher der Grossvater seinem Enkel nicht nur das Backgammon-Spiel erneut beibringt, sondern auch eine erste Liebe beschert, findet Vergangenheit statt, kommen die Erinnerungen hoch: die Taufe, die Flucht, das Flüchtlingslager in Italien; Mama Yanas Verzweiflung, die Schmach, als Vater Vasko, um seine Familie zu befreien, um Geld zu spielen beginnt.

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The World is Big and Salvation Lurks Around The Corner ist geschmeidig, packend, faszinierend, beglückend; unvergesslich die Tandemiade durch die Alpen, stimmungsvoll-melancholisch Stefan Valdobrevs Musik; liebevoll-verschmitzt der angeschlagene Tonfall. Des Films grösstes Plus aber sind die Schauspieler: Miki Manojlovic, der mit Charme und Charisma so lebensweise gütig wie manchmal voll stillen Zorns Bai Dan spielt; Jungschauspieler Carlo Ljubek, der mit erwachsener Bubenhaftigkeit zu bestechen versteht. Ganz zum Schluss fallen nochmals die Würfel. Und wer sich je gefragt hat, wie man mit zwei Würfeln mehr als zwölf Punkte erzielt, wird hier mit des Rätsels Lösung beglückt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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