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Birdwatcher 02

Birdwatchers

Text: Stefan Volk / 15. Apr. 2009

Bereits im Titel verbirgt sich eine Täuschung. Marco Bechis’ Spielfilm handelt nicht von Vogelbeobachtern, sondern richtet sich an sie. Wir, die Kinozuschauer in der sogenannten «zivilisierten Welt», sind die «Birdwatchers». Und mit uns beginnt der Film. Genauer, mit einer jener wenigen Szenen, in denen tatsächlich einmal Vogelbeobachter vorkommen. Wir begleiten diese Urwaldtouristen bei einer Bootsfahrt im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Ihre Ferngläser und unsere Augen sind auf den Regenwald gerichtet, als am Flussufer eine Gruppe von mit Pfeil und Bogen bewehrter Indianer ins Blickfeld rückt. Vom Boot und Kinosaal aus schauen wir fasziniert auf die halbnackten edlen Wilden mit ihren stolzen, ernsten Gesichtern; auf die in knappen Lendenschurz gewickelten Männer und die schamlos ihre Brüste entblössenden Frauen (oder sollte man aus ornithologischer Perspektive eher von “Weibchen” sprechen?).

Dann fliegen Pfeile in die Luft, und unter feindseligem Johlen werden die Touristen vertrieben. Unsere Alter egos lassen den Aussenbordmotor an und verschwinden für lange Zeit aus der Filmwirklichkeit. Wir dagegen dürfen bleiben, müssen aber den Blick fortan auf die schäbige Realität hinter der pittoresken Abenteuerurlaubskulisse richten. Kaum sind die Motorboote der wohlhabenden “Naturfreunde” ausser Sicht, erweist sich das Postkartenmotiv von den urtümlichen Ureinwohnern als eine weitere, grundlegende Täuschung. Ein paar Meter tiefer im Wald wartet schon ein Pickup auf die gedungenen Statisten dieser idyllischen Inszenierung. Die Frauen und Männer des Guarani-Kaiowá-Stammes ziehen sich ihre T-Shirts und Jeanshosen über, beschweren sich darüber, dass die Gage mal wieder niedriger ausfällt als vereinbart, und lassen sich zurück in ihr Reservat karren.

Birdwatcher 01

Wie das Leben dort aussieht, darüber erfahren wir anschliessend kaum etwas. Nur soviel: für manche ist es unerträglich. Zwei der jungen Männer, die eben noch als Touristenattraktionen am Flussufer posierten, versuchen sich gerade in der Affenjagd, als sie zwei der jungen Frauen aus ihrem Stamm erhängt im Wald entdecken. Nádio, das Oberhaupt der Gruppe, beschliesst daraufhin, dass es an der Zeit ist, das Reservat zu verlassen und auf das Land der Vorfahren zurückzukehren. Dort aber ist der Regenwald längst gerodet. Seit drei Generationen ist das Land in den Händen brasilianischer Grossgrundbesitzer. Davon lassen sich Nádio und seine Angehörigen jedoch nicht abschrecken. Vorerst schlagen sie am Strassenrand ihr Lager auf und planen eine der «Retomadas» (Wiederinbesitznahmen), die in Brasilien in den letzten Jahren für Schlagzeilen sorgten.

Obwohl der in Chile geborene, in Argentinien aufgewachsene und während der Militärdiktatur nach Italien emigrierte Marco Bechis keinen Zweifel daran lässt, auf welcher Seite er in dieser immer weiter eskalierenden Auseinandersetzung steht, vermeidet er klischeehafte Schwarzweissmalerei. Weder charakterisiert er die indigenen Landbesetzer als allweise Gutmenschen noch verteufelt er die europäischstämmigen Gutsbesitzer. Unter den Guarani-Kaiowá herrscht alles andere als eitle Harmonie. Je länger der Film dauert, desto deutlicher treten die unterschwelligen Konflikte zu Tage. Nádio will verhindern, dass seine Leute sich als Tagelöhner verdingen, und schickt sie stattdessen zum Jagen in den Wald, von wo sie meist mit leeren Händen zurückkehren. Er selbst sitzt zu Hause und betrinkt sich. Und als sein Sohn dann doch eine Arbeit annimmt und mit funkelnagelneuen Turnschuhen nach Hause kommt, verschmäht der Vater das Essen, das sein Sprössling ihm voller Stolz überreichen möchte – wie einst Adam Trask in East of Eden das “schmutzige” Geld seines Sohnes Cal.

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Andererseits kommt es zwischen den Indigenen und den Weissen zu mehr als nur zaghaften Annäherungen. Die Tochter des Gutsbesitzers flirtet mit dem Lehrling des Schamanen. Und eine alleinstehende Indianerin schleicht sich nachts zu jenem bewaffneten Arbeiter in den Wohnwagen, der eigentlich verhindern soll, dass die Guarani-Kaiowá das Land seines Bosses betreten.

Nicht nur vor der Kamera prallen kulturelle Welten aufeinander. Auch dahinter spiegelt sich diese Begegnung im Nebeneinander von professionellen Farmer-Darstellern und indigenen Laienschauspielern. Letztere wirkten zum ersten Mal in einem Film mit, überzeugen aber derart, dass es vielleicht nicht das letzte Mal bleibt. Um zu verhindern, dass sie überspielen, hat ihnen Bechis aus Hitchcocks birds und Leones C’era una volta il west Sequenzen vorgeführt, in denen kaum gesprochen wird. Mit Erfolg. Es sind nicht die grossen Worte, es sind die kleinen Gesten, die Blicke und die vielen Momente lastenden oder beredten Schweigens, mit denen die Darsteller beeindrucken. Ähnlich zurückhaltend führt Bechis auch Regie. Zwar lebt sein Film von Kontrasten wie denjenigen zwischen den Teenagern am Swimming Pool und den Indigenen im Fluss. Aber er setzt sie nie plump in Szene. Sie ergeben sich ganz selbstverständlich.

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Eher beiläufig fängt Birdwatchers auch die gewaltige Schönheit der bedrohten Naturlandschaften ein, die den Guarani-Kaiowá einst einen intakten Lebensraum boten. Erst ganz am Ende bannt der Film den Konflikt dann doch einmal in erkennbar symbolische Bilder. Die Kamera überfliegt den grünen Dschungel, bis dieser plötzlich in einer schnurgeraden Linie an Ackerland stösst. Wucherndes Leben weicht einer endlosen maschinengerechten Einöde. Nur vereinzelt verliert sich ein Baum in dieser monokulturellen Wüste wie ein einsames Mahnmal natürlicher Kreativität. Auch birdwatchers ist ein solcher Baum – in der ewigen Gleichförmigkeit cineastischen Mainstreams.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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