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Che: The Argentine, Che: Guerilla

Text: Pierre Lachat / 15. Apr. 2009

Eines weiss jeder, der im Lande Wilhelm Tells geboren ist, dass sich nämlich die meisten historischen Tatsachen der Legendenbildung entziehen. Es sind solche, die im Gedächtnis der Allgemeinheit keinen hinlänglichen Platz finden, weshalb sie es verdienen, auf vergilbenden Archivdokumenten zu figurieren. Wie es wirklich war – und war es wirklich so?​,

ist eine Frage, die sich erst wieder, beispielsweise, zu den Vorgängen vom 11. September 2001 stellt. Verharrt die dunkle Affäre hoffnungslos im Ungereimten? Die Überführung in Fiktion setzt gleich am ersten Tag ein. Denn was heisst schon Wahrscheinlichkeit, Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit! Die Nachwelt dürfte inzwischen zwei Dutzend Versionen ersonnen und verbreitet haben. Aber es werden doch bestimmt noch Erkenntnisse hinzugewonnen? Gewiss, bloss könnten sie schon verdichtete Zweifel abermals verstärken.

Wenn die weitaus überwiegende Zahl von Vorgängen keinerlei Mythen generiert, dann sind die wenigen, die nun tatsächlich Legenden stiften, gleichsam genötigt, möglichst viel Vernebeltes und Inkonsistentes in sich einzubinden.
Sagen beanspruchen keine Unwiderlegbarkeit oder Plausibilität, sie verlangen geglaubt oder dementiert zu werden. Der Krieg um Troja und die folgenden Irrfahrten des Odysseus brachten die Urformen europäischer Dichtung hervor. Aber dass sie entstehen konnten, war keiner geschichtlichen Tragweite, sondern jenem einen Erzähler zu verdanken, der sich der höchst sterblichen Überlieferungen angenommen hat, um sie in haltbare Verse zu giessen.

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Ähnliches wiederholt sich laufend, bis weit in unsere Tage. Am Ende des ersten Teils von che, unter dem Titel the argentine, stehen die kubanischen Aufständischen nach Einnahme einer Provinzstadt unmittelbar vor dem entscheidenden Marsch auf Havanna. Der Sturz der morschen Diktatur von Fulgencio Batista ist offensichtlich nur noch eine Frage von Wochen. Die Zusammenstösse mit der Armee dauern an, da beginnt in den eigenen Reihen die Auseinandersetzung, wer was wie zuwege gebracht hat und, mehr noch, wer bei der anstehenden Besetzung der Hauptstadt was wie ausrichten soll.

Einzelne Fraktionen der Guerilleros haben einander bereits bekämpft. Die eine oder andere Partei macht diese oder jene Einwände. Wer hat bis zuletzt gezögert, sozusagen noch im Sieg versagt und sich nach allen Seiten abgesichert, politische Reserven angemeldet, andere vorgeschickt? Ernesto Che Guevara ist auf dem Posten, ziemlich weit vorn, der Comandante. Aber wo bleibt eigentlich Fidel Castro, und hätte sein Bruder Raúl am Ende lediglich den Nachschub besorgt?

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Die Fabel, heisst das, ist noch kaum wirklich an ihren triumphalen Punkt gelangt, da wird sie mündlich oder wenigstens in den Köpfen sorgsam und vorsorglich zurechtgerückt. Keiner soll sagen können, alles sei ganz anders gewesen, wenn es darum gehen wird, das Erreichte niederzuschreiben. Oder ist es präzis umgekehrt, denken etliche daran, wie die Fakten bei Bedarf neu zu lesen wären? Wir sind wohl alle von Sinnen, staunt Guevara an diesem Tag. Dreissig ist er, sage und schreibe. Ungläubig schüttelt er den Kopf und ist etwas verwirrt von den unverhofften Fortschritten, die der Feldzug erzielt. Das Ergebnis komme ihm geradezu vor wie die Folge einer langen Reihe von Wahnsinnstaten, versichert er.

Als Argentinier kommt er von anderswo her, und woandershin wandert er auch wieder weg. Das endlose Palaver der nachrevolutionären praktischen Politik bekommt ihm schlecht. In schwarzweissen Einblendungen ist er ein paar Jahre später auf dem diplomatischen Glatteis der UNO zu sehen, wo es einem Tatmenschen seines Schlags schwer fällt, bei der Sache zu bleiben. In der unaufgeregten Verkörperung durch Benicio del Toro ist er als eine Figur von einiger Undurchschaubarkeit gezeichnet: gewiss kein Feigling, aber gern unbesonnen. So ist der Che, wie sie ihn nennen, in der Tat dem Irrfahrer Odysseus vergleichbar, den die Eroberung Trojas belanglost, während ihn erst die anschliessenden Fahrten zu den Rändern der bekannten Welt wieder ganz fordern werden.

Jenseits jeder Rhetorik schiebt der Film von Steven Soderbergh alles in ein flacheres Licht. Che zeigt die Revolution als jene exotische, bizarre Begebenheit hinter den sieben Bergen der Sierra Maestra, die sie damals gewiss war, als sie sich in ihrer nachmaligen Bedeutung noch niemandem zu erkennen gab, und wären es die Protagonisten selbst gewesen. Allerdings, der Legendenbildung kann sich das vierstündige Epos unmöglich restlos entziehen. Es muss sie, ganz logisch, miterzählen, und es will wenigstens versuchsweise zu verstehen geben, wie die Fiktionalisierung funktioniert. Denn etwas trägt jeder Mythos garantiert in sich, nämlich die Tendenz, zurückgestuft und, irgendwann, demontiert zu werden.

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Wer endlich kriegt, was er haben will, der will’s dann länger nicht behalten. Unter dem Titel Guerilla rollt der zweite Teil von Che gleichsam den ersten von vorne noch einmal auf, allerdings jetzt mit Bolivien als neuem Schauplatz und mit der Vernichtung der verschworenen Guerilleros als alternativem Ende. Guevara fordert das Glück nunmehr heraus, von dem er weiss, dass es ihm unter Fidel Castro auf eine fast schon irreale Weise gewogen war. Das Argument liesse sich auch freudianisch auf die Füsse stellen: in sträflicher romantischer Verblendung lechzt der nimmersatte, rastlose Aufrührer nach der Niederlage, die ihm in Kuba versagt geblieben ist.

Edel- und Opfermut, Sendungsbewusstsein und Unfehl
barkeitswahn fallen in eins. Offenen Auges rennt er in sein und seiner Mitstreiter Verderben. Keinen Moment glaubt der Comandante, sich von Grund auf mit den Umständen vertraut machen zu müssen, die an Ort und Stelle so ganz und gar ungünstiger sind als bei jener ersten Übung. Mangelt es den Gefährten schon nach Wochen an Nahrung, weil die Bevölkerung nur zögerlich etwas herausrückt, würgt er tapfer den Hunger hinunter, der dann freilich alle, auch ihn gefährlich schwächt. Zu verhandeln gibt es nichts mehr, mit niemandem. Inzwischen von den USA angeleitet, haben die lateinamerikanischen Militärs hinzugelernt. So leicht lassen sie sich kein zweites Mal kalt erwischen. Die Tage des Widerstands lassen sich abzählen. Der Film tut es erbarmungslos. Lange Jahre wären vonnöten, sei’s hier, sei’s sonst wo, um das Ziel zu erreichen.

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«Patria o muerte», so lautete die Devise, unter der die Kämpfer, den Sieg vor Augen, während der letzten Phase der Erhebung auf Kuba ins Feuer der Soldaten liefen. Ein Exilant aus Argentinien, ähnlich Odysseus ein Fremdling in allen Vaterländern, endet und verendet Guevara, unschädlich gemacht wie ein tollwütiger Hund, weit hinten im bolivianischen La Higuera. Und die Liquidierung des Irrfahrers ohne Heimkehr vollzieht sich ganz wörtlich im Zeichen jenes suizidalen Gebots, das nichts Drittes dulden mag ausser Vaterland oder Tod.

Mit ihm scheitert ein Narr beim Versuch, die Welt zu verändern, wofür sie ihn aus dem Grab geschaufelt hochleben und in Liedern besingen lässt, um ihn schliesslich ans Kreuz der Verklärung zu heften. Sie tut es, mit den Worten des gnadenlosen Heinrich Heine auf jenen Erlöser, dessen Nachfolge selbst der ungläubige Che gesucht haben mag: als warnendes Exempel.

In bald zwanzig Jahren hat Steven Soderbergh die Erwartungen, die sein denkwürdiger früher Sex, Lies and Videotape weckte, nie mehr ganz erfüllt, ungeachtet einiger leidlicher Leistungen. Seiner ungebrochenen Emsigkeit in die Quere gerät laufend ein berechnendes Lavieren zwischen kommerziell-televisuellem Irgendwas und einem dahinter verschämt verborgenen sehr hohen Ehrgeiz.

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Sein Che ertrüge mehr als eine Raffung, doch was immer da gelungen ist und dann doch wieder nur teils teils, dem amerikanischen Regisseur steht einiges an Respekt zu. Denn weder wird der postume Glorienschein gespiegelt oder gar aufgedonnert noch der Held denunziert; weder wird abweichenden Fassungen der Mär widersprochen noch die eigene zur einzig getreuen erhoben; und weder rutscht der Film ins billige Killer-Genre aus noch ins Tränenselige.

Das Ergebnis, so könnte sich der Autor gerade in Anlehnung an seinen Helden gesagt haben, kommt mir vor wie die Summe einer langen Reihe von unsinnigen Entscheidungen, die dann überraschend doch etwas Gültiges gezeitigt haben. Und wäre es nur die Vermutung, dass Motive, Instinkte und Reflexe den Revolutionär angetrieben haben, die er wohl selber nur halbwegs verstand und bedachte. Für Aussenstehende unbegreiflich und dennoch bar jeder wirklichen Unergründlichkeit – ja, so könnte er sogar seinem eigenen innern Auge erschienen sein.

Sollte das der abschliessende Beitrag zum Thema sein, über vierzig Jahre nach der Erschiessung des Argentiniers Ernesto Guevara, genannt der Che, dann war auch die Mühe nicht verspätet. Dabei hat die Legende nun doch viel länger hingehalten, als vorauszusehen war. Manche Tote überdauern die Überlebenden. Wo bleibt eigentlich Fidel Castro, und hätte sein Bruder Raúl am Ende lediglich den Nachschub besorgt, damals?

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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