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Ricky 03

Ricky

Text: Pierre Lachat / 03. Juni 2009

Keiner seiner besten bekanntgewordenen Filme der letzten zehn Jahre hat nach der ominösen Richtung tendiert. Und François Ozon könnte eine Themenwahl von entsprechender Art wohl nur krumm anstehen. Da mag es zunächst überraschend so aussehen, als verlaufe er sich diesmal in ein grimmiges Sozialdrama, und zwar gleich mit allem, was zu dem Genre gehört. Denn da ist der Weg zur Fabrik weit und mühsam, die Arbeit daselbst ist eintönig und gefährlich. Die alleinerziehende Mutter ist überfordert, der Vater so gut wie unbekannt, jedenfalls abwesend, und das schulpflichtige Mädchen sich selber überlassen. Die staatlich verbilligte Wohnung in der Bannmeile ist eng und ungemütlich. Und der Verdienst reicht knapp fürs Nötigste.

Mit einem Wort, die Verhältnisse sind prekär, und zwar so ausgeprägt, dass die Exposition leicht einmal parodistische Züge annimmt, wohl eher mit listiger Absicht als arglos ungewollt. Der Verdacht kommt auf, ganz ernst könne es doch unmöglich gemeint sein mit den allzu durchsichtigen Zitaten aus dem politisch korrekten Protestfilm des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Katie, die Mutter, legt sich in der Bude einen weiteren neuen Liebhaber zu, und bald schon zieht der Bursche bei ihr ein unter den wachsamen, stumm missbilligenden Blicken des Töchterchens Lisa. An diesem Punkt spätestens fragt sich im Ernst: worauf wird sich ein solcher Stoff noch reimen können?

Ricky 04

Bis hierhin fehlt jegliche originelle Idee, also kann das Unterfangen nur entweder scheitern, oder es muss eine radikal andere Wendung eintreten. Und wenn sich zeigt, dass Katie von ihrem Geliebten, einem Spanier namens Paco, stracks schwanger geworden ist, schon wieder, dann gerät vollends ausser Sicht, warum alles so schnell vor sich gehen musste, wenn daraus ein Motiv von eigenem dramaturgischem Wert hätte werden sollen. Und selbst wenn dann Ricky das Licht der Welt erblickt und die Mutter dem Vater vorwirft, er schlage den Kleinen hinter ihrem Rücken, woraufhin sich der Beschuldigte für eine Weile auf und davonmacht, schöpfen wir noch keinerlei Verdacht. Die Vermutung, da sei etwas drauf und dran, seine Folgerichtigkeit zu verfehlen, bleibt unbestimmt. Ein gewisser Nachdruck kommt zum Beispiel auf den Umstand zu liegen, dass Pacos Brust schon fast animalisch üppig behaart ist. Das Detail lässt aufmerken, doch ohne schlüssig weiterzuhelfen. Dabei lauert die surrealistische Überraschung gleich um die Ecke.

Der Wunsch nach naturwüchsigen Flügeln, die der lästigen Erdenschwere entgegen zu wirken vermöchten, ist eine der Ur-Sehnsüchte unseres Geschlechts. Sie ist enttäuscht geblieben und hat sich wohl deshalb auf die Engel gerichtet. Das Verlangen ist nur noch heftiger geworden dank der Fähigkeit, den Traum vom Fliegen mit künstlichen Mitteln zu verwirklichen. Da die angeborene Energie nichts Genügendes ausrichtet, schaukeln uns allerhand selbst gebastelte Kraftverstärker in die Atmosphäre hoch und sogar über sie hinaus.

Die Sagen, die von antiken Fahrten durch den Äther auf wächsernen Schwingen handeln, akzentuieren mit Vorliebe die beigegebenen Abstürze. So wollen sie vor einer Vermessenheit ab Boden warnen, die sehr akkurat Hybris, also Hochmut heisst, auch Höhenrausch. «Runter kommen sie immer.» Der matte Alltagsspruch sagt alles und nichts. Er ist von widerwärtiger Banalität, umso mehr, als er eine unwiderlegbare Wahrheit im absoluten Sinn des Ausdrucks in seinen lakonischen Wortstand presst.

Ricky 01

Wenn nun der Titelheld von Ricky, der Kleine, jene Ur-Sehnsucht mindestens fiktiv befriedigt, dann geschieht es ganz im Sinn und Geist der Surrealisten. Sie fassten den Wunsch als den mächtigsten Antrieb im menschlichen Dasein schlechthin auf. Zugleich hatten sie vor Augen, dass er in seinem ganzen unbegrenzten Umfang nur selten in Erfüllung geht. Die weitäugigen Prolos Katie, Lisa und Paco haben sich alles offensive Begehren abgewöhnt. Bestenfalls halten sie noch verschwommen, unbewusst an Vorstellungen von einer intakten Familie fest. Was ihnen mit Ricky, dem Mutanten und Vierten im Bunde, widerfährt, erinnert sie daran, dass es ohne jenes verzehrende Wollen kein Leben gibt.

Denn die Drei werden Zeugen davon, wie es eben doch zu einer Bewahrheitung sogar des nie Dagewesenen kommen kann. Eines schönen Tages flattert das Unverhoffte daher. Bis weit in die Öffentlichkeit hinaus wird es gebührend, wiewohl nur momentan wahrgenommen, bestaunt und bejubelt. Indessen erweist sich die Sensation auch gleich wieder als flüchtig, indem sie ebenso flott von hinnen hebt, wie sie niedergekommen ist. Das Phänomen gleitet einem voraussichtlichen Absturz entgegen: mindestens jenseits des Horizonts, wenn nicht ganz drüben, im Jenseits. Sie schwebt auf Flügeln, die von Natur aus den himmlischen Heerscharen samt Spatzen vorbehalten wären. So fällt die Ankunft am Ziel der Wünsche in eines zusammen mit dem Kollaps der Illusion.

Der Traum ist ein kreisender Adler, das Erwachen ein gackerndes Huhn. Dennoch, auf der entgegengesetzten Seite ihres Endes rappelt sich die Einbildung vielleicht wieder auf. Ein Vorbote hat die Bewohner des Planeten gestreift – ein neubiblischer Prophet womöglich, der sich um ein paar Jahrmillionen vertan hat, ohne einen Schimmer, was es denn nun zu weissagen gäbe. Auf Mutationen muss alle Welt sehr lange warten, und keiner weiss, ob die genetischen Weiterungen unsern Wünschen entgegenkommen werden. Aber es kommt noch soweit, irgendwann.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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